© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Cromwells Schädel
Kulturlöschung: Am Ende der Empörungspolitik steht die Banalität des Augenblicks
Konstantin Fechter

Es gibt Vergehen, die selbst mit dem Tod nicht gesühnt scheinen. Als Oliver Cromwell, Lordprotektor von England, Schottland und Irland, im Jahr 1658 an Malaria verstarb, hatten viele Bürger des Commonwealth noch eine Rechnung mit ihm offen. Royalisten, Katholiken, Iren – der Führer der Parlamentsarmee hatte sich während der Wirren des Bürgerkriegs durch sein skrupelloses Vorgehen eine Legion von Feinden erschaffen.

Die Mächtigen werden jedoch nicht als solche bezeichnet, wenn es jemand zu ihren Lebzeiten wagen würde, gegen sie die Hand zu erheben. Der Tag der Rache an Oliver Cromwell war erst mit seinem Tod gekommen. Keine drei Jahre nach dem Ableben des Lordprotektors wurden dessen Leichnam und die anderer Republikaner aus ihren Gräbern gezerrt und für ein bizarres Schauspiel freigegeben. Die verwesenden Körper wurden in Ketten gelegt, postum wegen Hochverrat und Königsmord angeklagt und daraufhin am Galgen gehängt. Abschließend schlug man den zweimal Verstorbenen den Kopf ab, und Cromwells Schädel wurde auf einer Stange gegenüber der Westminster Hall aufgespießt.

Zorn befreit von der Bürde der Vernunft

Über zwanzig Jahre hing die von Fäulnis befallene Warnung dort, eine Botschaft an all jene, deren Ansinnen eine Verewigung in den Geschichtsbüchern ist: Ihr entkommt uns nicht. Mögt ihr auf dem Höhepunkt eurer Macht noch so herrlich agiert haben, am Ende sind wir es, die über euch Gericht halten. Denn mit seinem letzten Atemzug verliert auch der souveränste Herrscher und gerissenste Feldherr die Kontrolle über die im Leben so eisern erarbeitete Legende seiner Person. Er wird zur Vergangenheit, nichts weiter als eine Seite Papier, die nach Belieben durch die Nachfolgenden beschrieben werden kann. 

Geschichte ist nicht das Echo der langsam verhallenden Jahrhunderte, keine Manifestation der historischen Wirklichkeit ihrer Ereignisse. Die Erzählkunst der Überlieferung ist launisch und mitunter auch ungerecht, sie kennt keine Konstanten außer dem steten Wandel der Perspektiven. Für diese ist sie ein Vexierbild, das je nach weltanschaulichem Blickwinkel unterschiedlichste Interpretationen ein und desselben Vorgangs zuläßt. Willkürlich errichtet sie ihre Denkmäler, nur um sie Jahrzehnte später als Monumente des Schreckens zu verdammen.

Von ihr als Wissenschaft zu sprechen ist ein Akt der kulturellen Blendung, notwendiger Selbstbetrug, um den Zement für das verbindende Fundament einer Gesellschaft zu erlangen. Als menschlichste aller Wissensdisziplinen gelingt es ihr nur selten, objektiv maßzuhalten, vielmehr wird sie zum Instrument einer Gedächtnispolitik, welche das Gestern nach emotionsgeladenen Maßgaben auf das Heute zuschneidet. Die in ihr auftretenden Figuren geraten zum Blitzableiter der Anwandlungen späterer Generationen, die selten an Kontextualisierung interessiert, sondern auf der Suche nach Schimären sind, welche als Projektionen eigener Abgründe dienen.

Eine Gefühlsregung ist daher besonders mit der Zeit verbunden: der Zorn. Er ist der stete Begleiter des uralten Kampfes um historische Genugtuung. Durch seine Impulsivität und Selbstgerechtigkeit befreit er von der Bürde der Vernunft und Komplexität, welche ein nüchterner Blick auf die Jahrtausende erfordern würde. Und schon immer gab es geschickte Akteure, die als Vergeltungsarchitekten die aufgestauten Zornressourcen für ihr Spiel zu gewinnen wußten. Kulturrevolutionen sind in erster Linie immer auch Zeitumdeutungen. Ihre Zerstörungslust speist sich aus dem Bedürfnis, einer als unheilvoll wahrgenommenen linearen Ereignisachse zu entkommen. Mit dieser Erbausschlagung beginnt der Racheakt an den Werten der verhaßten Väter: an überkommenen Bräuchen, an Literatur, deren Sinn sich nicht mehr erschließt, und Bauwerken, welche in ihrer Monumentalität die Kalamität der eigenen Existenz verspotten. Die Hinterlassenschaften der Vorangegangenen werden nicht als gemeinsinnstiftende Bereicherung oder diskussionswürdige Herausforderung aufgefaßt, sondern als Beleidigung der Hinterbliebenen.

Peter Sloterdijk betreibt in seiner Betrachtung „Zorn und Zeit“ eine psychopolitische Archäologie dieser Emotion und deutet die großen totalitären Ideologien als wütende Erregungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die kommunistische Internationale tat sich dabei hervor als „Zornsammelstelle, an der die unbeglichenen Rechnungen von überall her registriert und zu späterer Rückzahlung aufbewahrt werden“.

Eine kulturferner Mob trifft auf Apathie

Der gesellschaftspolitische Umsturz bedarf zu seiner radikalen Verwirklichung die rachebereiten Träger der Verbitterung. Die Moderne rekrutiert sie aus dem ihr eigenen gigantischen Heer der Verlierer. In diesem sammeln sich nicht nur die in sozioökonomischer Perspektivlosigkeit Gestrandeten, jene überflüssigen und testosterongeladenen Unruhegeister, die nur auf ein Streichholz zu ihrer Entzündung hoffen. Es sind auch die Massen an jungen Studenten, welche in den Tempeln der Weisheit über ihr Unwissen erschrecken und sich im Groll von der Zeit als Lehrmeister abwenden. Die Bloßstellung durch ihr eigenes Unvermögen haben sie den Alten nicht verziehen und nichts nährt den Zorn mehr als Scham, die aus dem Gefühl des Ungenügens entspringt. 

Das wütende Subjekt kann in seiner Empörung auf das unerschöpfliche Ungerechtigkeitsreservoir zugreifen, welches aus dem Narrativ einer als ausbeuterisch und erniedrigend verstandenen Weltgeschichte gespeist wird. So wird die eigene Misere als das abschließende Glied einer langen Elendskette aufgefaßt, die es endlich zu durchschlagen gilt. Indem sich die Wut der Jahrhunderte im Furor der Bilderstürmer manifestiert, verstehen diese ihre ideologische Abrißleistung als die Umsetzung einer gerechten Strafe und notwendige Maßnahme zur bitter nötigen Neugestaltung der Zukunft. In der moralischen Verwirrung, die im Zuge der kulturellen Entleibung ausbricht, läßt sich die Zertrümmerungsarbeit als brachialer Schöpfungsakt deklarieren.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist geprägt von dieser Vergeltungskultur, in der sich die Nachwehen einer substanzlos gewordenen Revolutionsrhetorik mit der Gleichgültigkeit der spätkapitalistischen Verbrauchergesellschaft vereinen. Auf die Umwertung des Eigenen folgt die Umbenennung des Vertrauten. Straßen, Plätze, öffentliche Gebäude, durch die Generalinventur der europäischen Geschichte geraten unzählige historische Persönlichkeiten ins Visier der Identitätsbereinigung.

Die sich selbst als Löschkultur bezeichnende Geisteshaltung der „Cancel Culture“ ist ein Widerspruch in sich. Kultur kann nur gestaltend wirken, was der Auslöschung dient, ist hingegen Ausdruck von Kulturlosigkeit. Gerade deswegen erweist sich die Bewegung als effektiver und global agierender Zornorganisator. Ihre Verdrängungserfolge erreicht sie nicht mit überlegener Argumentation, sondern durch die Mobilisierungsfähigkeit einer krawallbereiten Minderheit und der Apathie überkommener Bildungseliten.

Offene Türen muß man bekanntlich nicht eintreten. Wo sich kein schneller Sieg durch vorauseilenden Gehorsam der Institutionen einstellt, entfesselt sie die Wut der Straße. Der kulturferne Mob zelebriert einen neuen Primitivismus und sehnt sich nach der Ausschreitung als spirituellem Erlebnis. Die Gewaltorgie tarnt sich als legitimer Aufschrei und durch die Last der Geschichte aufgezwungenes Rachebedürfnis. In ihrem Zuge wurden Statuen wie die von Christoph Kolumbus in Boston enthauptet und das Denkmal des auch im Sklavenhandels tätigen britischen Kaufmanns Edward Colston am Hafen von Bristol in die vergessenden Arme der See gestoßen.

Doch Rache wofür? Die Anklage der Altvorderen bleibt ebenso nebulös wie der Ersatz für die verwaisten Sockel. Bezeichnend hierfür ist der Vorstoß, im Görlitzer Park in Berlin ein Denkmal für Drogendealer zu errichten. 2019 errichtete der Künstler Scott Holmquist eine Prototyp-Statue mit dem Titel „Last Hero“ für 24 Stunden in dem Park. Durch die Huldigung eines kleinkriminellen Niemands gibt sich eine auf den Hund gekommene Bürgerschaft der Lächerlichkeit preis.

Doch wo historischer Gedächtnisverlust das Ziel ist, kann Erinnerungskultur nur noch als Kunstpersiflage existieren. Neben ihren Zwang zur Negation weist die „Cancel Culture“-Bewegung nichts auf außer einem diffusen Unbehagen an der abendländischen Tradition. Ihr Daseinszweck erschöpft sich im nihilistischen Bildersturm, dem Hinterlassen einer Kulturwüste, in der nur noch das normierte Gedächtnis wächst. Das Vorgehen ist konsequent und gleicht die Umwelt ihrem konturlosen postmodernen Betrachter an, der sich in ihrer Abstraktheit bestätigt und nicht durch Konkretes herausgefordert werden möchte.

Phrasen für Scham- und Schuldrituale

Die Abrechnungsbewegung kann dabei auf virtuose Vergeltungsinszenierer wie den amerikanischen Regisseur Quentin Tarantino zurückgreifen. Erschuf dieser mit seinen frühen Werken wie „Reservoir Dogs“ und „Kill Bill“ noch zeitlose Racheerzählungen, die in der Bezugslosigkeit des kriminellen Milieus angesiedelt waren, haben die darauffolgenden Filme ein besonderes Verhältnis zur Geschichte entwickelt. „Inglourious Basterds“, „Django Unchained“ und „The Hateful Eight“ behandeln mit dem Zweiten Weltkrieg sowie den bürgerkriegsnahen Vereinigten Staaten unterschiedlichste Epochen, aber projizieren dennoch dieselben Bilder: die Entrechteten und Erniedrigten verüben eine grausame Abrechnung an ihren Unterdrückern in Form des NS-Regimes oder konföderierter Sklavenhalter. Daß dort Wehrmachtssoldaten wie Plantagenbesitzer bis hin zu Goeb-bels und Hitler gleichermaßen niedergemetzelt werden, ist mehr als nur groteske Uchronie.

Tarantinos Filme wollen keine historische Authentizität verkörpern, sondern die Geschichte durch die Macht des Mythos außer Kraft setzen. Das Kino wird so zur besseren Realität und im Zuschauer auch nach Ende der Vorführung fortwirken. Hollywood führt den Exorzismus vom Bösen vor, das in der Figur des ewigen Faschisten-Rassisten Gestalt annimmt, und reduziert die Komplexität der Bewältigungsproblematik auf eine einfache Bannformel. In dieser verbleibt Gegengewalt als einziges Heilmittel gegen die sinistren Antagonisten und wird zur legitimen Grundlage beim Versuch der Herstellung vermeintlicher Weltgerechtigkeit.

Von einer geschichtlichen Verankerung des Einzelnen kann indes nicht mehr gesprochen werden. Das westliche Individuum bleibt nackt und in historischer Obdachlosigkeit zurück. Vergangenheit reduziert sich in Zeiten von „Cancel Culture“ auf einen Steinbruch, aus dem beliebige Phrasen für die zahlreichen Scham- und Schuldrituale der dauerbetroffenen Gesellschaft gebrochen werden können. Sie wird zu einer quälenden Last, auf deren Verschwinden letztendlich auch die bisher Unbeeinflußbaren hoffen werden. Am Ende steht der zeitlose Mensch, der unbedarfte Konsument des banalen Augenblicks. Er ist der Gleichgültige, der Gedächtnislosigkeit als Tugend auffaßt und dadurch für jede Mode beliebig formbar bleibt.

Cromwells Schädel irrte auf einer dreihundertjährigen Odyssee durch die Hände von Hehlern, Halunken und Kuriositätenkabinettsbesitzern, bis er endlich am Sidney Sussex College an unbekannter Stelle zu seiner letzten Ruhe gebettet wurde. Es wird sich zeigen, wie lange die Köpfe von Kolumbus und Colston umherwandern, bis für sie und ihr herausforderndes Erbe ein Platz gefunden ist.

Foto: Geköpfte Christoph-Kolumbus-Statue in Boston: Im Zuge der „Black Lives Matters“-Proteste schändeten Unbekannte im Juni 2020 das Denkmal; Szene aus dem Quentin-Tarantino-Film „Inglourious Basterds“ (2009) mit Brad Pitt (r.) und Eli Roth: Grausame Abrechnung