© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Wie deutsche Außenpolitik zum Spielfeld von Gefühl und Empfindung wurde
Das Brot der frühen Jahre
Thorsten Hinz

Politische Debatten stehen in der Bundesrepublik unter dem Vorbehalt „unserer Vergangenheit“, wobei das Verständnis davon sich auf das NS-Jahrzwölft beschränkt. In außenpolitischen Fragen soll sich daraus eine „besondere deutsche Verantwortung“ ergeben. Es handelt sich hier um keine definierte oder überhaupt definierbare Kategorie, sondern um eine sentimentale und fast beliebig formbare Ableitung aus der „reductio ad Hitlerum“, aus dem Fehlschluß nämlich, daß eine Ansicht, bloß weil sie von Hitler vertreten wurde, zwingend falsch sein müsse. Das geht bis zu der extremen Auffassung, nur das genaue Gegenteil davon sei richtig.

Diese Überzeugung äußert sich in einem rigiden und aggressiv vorgetragenen Moralismus, der die eigene Meinung als eine humanistische und damit unangreifbare hinstellt und Widerspruch als menschenverachtend und indiskutabel abqualifiziert. Fragen nach den politischen, juristischen, finanziellen, sozialen, geopolitischen und anderweitigen Konsequenzen der zur Diskussion stehenden Entscheidungen werden als obszön und amoralisch zurückgewiesen.

Einer rationalen Politik ist damit die Grundlage entzogen. Nach außen führt das zu Machtverzicht, fehlender Interessenvertretung und Selbstfesselung bis hin zur Selbstbeschädigung. Die Duldung und sogar Förderung der Masseneinwanderung und die Hinnahme der EU-Schuldenunion ragen als Beispiele heraus.

Indem Deutschland das Politische exzessiv moralisiert, lädt es das Ausland zur kalkulierten moralischen Erpressung ein. Die „besondere Verantwortung“ sabotiert in Wahrheit eine verantwortliche Politik, denn nur ein im Innern befriedetes Land ist zu strategischem Handeln befähigt und kann nach außen ausgleichend und befriedend wirken. Dazu muß der Staat als handlungsfähige Einheit auftreten und im Bedarfsfall seine Interessen gegen externe Zudringlichkeiten schützen.

In der Bundesrepublik handeln die Inhaber der Staatsgewalt als Funktionsträger eines übernationalen hypermoralischen Gesetzes und machen das Staatsvolk zu dessen Geiseln. Das Verblüffende ist nun, daß die Bürger durch ihr Wahl- und sonstiges Verhalten ihre Entrechtung und Enteignung mehrheitlich bejahen, ihnen jedenfalls keinen Widerstand entgegensetzen.

Wer auf die Spannungen und Belastungen verweist, die durch nicht integrierbare Zuwanderer ins Land getragen werden, oder die Zumutungen für Steuerzahler und Sparer thematisiert, die die Politik der EZB den Deutschen auferlegt, wird nicht nur von Politik und Medien mit Feinderklärungen und Sanktionen bedacht, er kann auch auf keinerlei soziale Solidarität rechnen. Im Gegenteil, die Gesellschaft exekutiert willig den verhängten Bann, indem sie den Delinquenten isoliert und ächtet.

Die Gründe und Motive erklären sich zum einen aus kollektiven Eigenschaften, die Gustave Le Bon vor 120 Jahren in der „Psychologie der Massen“ beschrieben hat: „Triebhaftigkeit, (…) Unfähigkeit zu logischem Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist“. Das trifft neben den Massen auch auf die Funktionseliten infolge langjähriger Negativauslese zu.

Zu der auf Selbstbeschädigung angelegten Konditionierung haben zudem konkrete zeithistorische Umstände beigetragen. Für die geistig-moralische Verfaßtheit des heutigen Deutschland war die Zeit um 1959 eindrücklicher als die Jahre 1989/90. Dazu ein kurzer historischer Rückblick:

Wie immer man die Politik Konrad Adenauers beurteilt, man muß konzedieren, daß er klare Vorstellungen davon hatte, wie das am Boden liegende, zerrissene und kompromittierte Deutschland seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen sollte. Auf jeden Fall mußte es zu beträchtlichen Konzessionen bereit sein. Das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel verband moralisches mit realpolitischem Kalkül. Die Ratifizierung am 18. März 1953 im Bundestag setzte der Kanzler mit Stimmen der Opposition gegen Teile der eigenen Fraktion durch. Knapp drei Wochen später wurde er erstmals im Weißen Haus empfangen. Sein Bestreben nach deutscher Verfügungsgewalt über Atomwaffen zeigt, daß er sich die Bundesrepublik keinesfalls als dauerhaften Vasallenstaat vorstellte.

Zwei Ereignisse veränderten dann alles: Ende 1958 stellte die Sowjetunion an die Westalliierten die ultimative Forderung, ihre Truppen aus West-Berlin zurückzuziehen. Den zweiten Schock lösten Hakenkreuzschmierereien an der Kölner Synagoge aus.

Zwei zeitnahe Ereignisse veränderten alles: Ende 1958 stellte die Sowjetunion an die Westalliierten die ultimative Forderung, ihre Truppen aus West-Berlin zurückzuziehen und die Halb- in eine „Freie“ – heißt vogelfreie – Stadt zu verwandeln. Es begann die „Berlin-Krise“, ein jahrelanger Nervenkrieg im Schatten atomarer Bedrohung.

Den zweiten Schock löste ein Ereignis am Weihnachtsabend 1959 aus: Zwei Kleinkriminelle hatten die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert. In den folgenden Wochen gab es zahlreiche Wiederholungstaten durch zumeist jugendliche, teilweise von der Stasi angestachelte Nachahmer. Über die Bundesrepublik brach eine internationale Kampagne herein. NS-Vorwürfe aus Moskau und Ost-Berlin hatten seit jeher zum Arsenal des Kalten Krieges gehört. Nun äußerte sich auch im Westen – der Krieg lag erst 14 Jahre zurück – ein altes Mißtrauen. In London gingen 15.000 Mitglieder des Verbandes jüdischer Veteranen auf die Straße. Vor dem deutschen Generalkonsulat in New York machten ebenfalls Tausende Demonstranten mobil.

Für Caspar von Schrenck-Notzing war das die erste Belastungsprobe für die Bündnispolitik und die politische Philosophie der Bundesrepublik, die zu einem „panischen Ausbruch ins Irrationale“ führte: „Eine Frage war gestellt, die Antwort überstieg die Kräfte, es blieb der Kopfsprung aus dem Fenster, genannt ‘Bewältigung der Vergangenheit’.“ Der Bundestag beschloß eilig ein Gesetz gegen Volksverhetzung. An den Schulen wurde die politische Bildung ausgeweitet. Prozesse gegen NS-Täter wurden forciert. In der Presse, in der Literatur, auf Theaterbühnen, im Kultur- und Geistesleben wurde die nationalsozialistische Herrschaft breit erörtert.

Es muß genau unterschieden werden, wo die Maßnahmen realpolitischen Notwendigkeiten gehorchten und wo sie zum gesinnungsethischen Selbstzweck wurden. Die Bundesrepublik befand sich in einer doppelt schwierigen Lage. Zum einen war sie auf die Unterstützung der Verbündeten angewiesen, denen das Berlin-Problem und die deutsche Frage zunehmend lästig wurden. Um so mehr mußte sie Rücksicht auf die öffentliche Meinung in diesen Ländern nehmen.

Der Mauerbau am 13. August 1961 legte dann endgültig offen, daß der Wunsch nach Wiedervereinigung mit den Interessen der Verbündeten nicht mehr übereinstimmte. Die USA, Frankreich und Großbritannien waren bereit, West-Berlin zu schützen, doch das Konzept Konrad Adenauers, mit der vereinten Kraft des Bündnisses die Sowjet­union zur Herausgabe der DDR zu zwingen, war gescheitert. Die Alliierten wollten mit der Sowjetunion über Abrüstung und Entspannung verhandeln und akzeptierten die deutsche Teilung. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Heinrich Krone, sah „die Stunde der großen Desillusion“ angebrochen und klagte im Tagebuch, „(...) daß die Westmächte uns in Verträgen versprochen haben, daß sie nicht rasten würden, bis Deutschland wieder ein Volk und Land ist, das alles hat im Augenblick keine aktive Bedeutung“.

Heute muß man die Perspektive erweitern. Wieviel wird Europa im globalen Kontext noch bedeuten, wenn sein Stabilitätsanker reißt? Während China die Seidenstraße ausbaut, bewältigt man in Berlin schuldbewußt die unschuldige Mohrenstraße. 

Mit dem Verschwinden der deutschen Einheit hinter den Horizont des absehbar Möglichen waren das Selbstverständnis und die Identität von Staat und Gesellschaft elementar berührt. Empörung, Isolations- und Kriegsfurcht einerseits, Ohnmacht und Mangel an Handlungsmöglichkeiten andererseits beförderten eine Mentalität in der Gesellschaft, die sich von der Real- auf die Moralpolitik verlegte. Dahinter stand die Hoffnung, die Selbstpräsentation als schuldbewußter, reuiger Büßer würde die Welt von der deutschen Harmlosigkeit überzeugen und sie zur Schonung veranlassen.

Diese emotionale Reaktion fand eine politische Rationalisierung durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, die sukzessive die „intellektuelle Staatsgründung als Internalisierung der Vergangenheitsbewältigung“ (Clemens Albrecht) betrieb. Sie bildete für die Achtundsechziger den ideellen Bezugs- und den Ausgangspunkt ihres gesellschaftspolitischen Engagements. Das neuartige Gemeinschaftsprojekt bestand darin, den schuldhaften Zusammenhang von Volk, Nation, Staat, Kultur und Tradition im Zuge einer Kulturrevolution zu dekonstruieren und eine neue Gesellschaft nach anti- und übernationaler, das heißt universalistischer Maßgabe zu konstituieren.

Die besondere metapolitische Tiefenwirkung ergab sich aus der Verbindung mit der theologischen Ethik der Evangelischen Kirche. 1965 veröffentlichte die EKD die Ostdenkschrift zum deutsch-polnischen Verhältnis, insbesondere zur Oder-Neiße-Linie. Die Verfasser betonten zwar, für konkrete politische und völkerrechtliche Entscheidungen keine Kompetenz zu besitzen, erhoben aber den Anspruch, durch Auslegung des Evangeliums die „inneren Voraussetzungen“ für ein „realistisches Urteil und die wirkliche Bereitschaft zur Versöhnung“ zu schaffen. Die Vertreibung sei als „ein Teil des schweren Unglücks“ zu verstehen, „das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere Völker gebracht hat“. Solches Verständnis sei geeignet, „eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes“ hineinzubringen und lege den Rechtsverzicht auf die Ostgebiete nahe. Tatsächlich löste das Memorandum einen Meinungsumschwung in der Grenzfrage aus und führte dazu, daß das realpolitisch Unvermeidliche mehrheitlich akzeptiert wurde.

Der Vorgang war dennoch hochproblematisch, weil eine politische Grundsatzfrage nicht politisch, sondern in künstlicher metaphysischer Überhöhung beantwortet wurde. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, um die Politik – und zwar die Außenpolitik – zum Spielfeld religiöser Empfindungen und gefühlsmäßiger Interessen zu machen.

Inzwischen ist diese Mentalität der Normalfall. Bei den Grünen als genuin bundesdeutscher Partei gehörte sie sogar zur Gründungs-DNS. Ablesbar ist das an den Reaktionen auf die Reparationsforderungen, die immer wieder an Deutschland herangetragen werden. Es stößt nicht nur auf Unverständnis, es gilt als Sakrileg, den Status quo ante bellum, den Vorkriegsstand, als politische und juristische Kategorie ins Spiel zu bringen und damit die Gebiets- und Vermögensübertragungen, die nach dem Krieg zuungunsten Deutschlands erfolgten, in Gegenrechnung zu stellen. Dies führt sofort zum Stigma des Revisionismus, das heißt zum vernichtenden Vorwurf, man würde „unsere Vergangenheit“ und die „besondere deutsche Verantwortung“ leugnen.

Es bestätigt sich, was Günter Maschke 1997 in einem Interview mit der JUNGEN FREIHEIT über die politische Klasse sagte: „Sie gewinnt, sie verstärkt und verbessert ihre Macht im Inneren durch den Verzicht nach außen. Der Verzicht nach außen verstärkt die totalitären Formen annehmende Herrschaft im Inneren. Der Verzicht auf eine Verfolgung deutscher Interessen innerhalb Europas beinhaltet einen Machtgewinn, der sicher und kalkulierbar ist ...“

Heute muß man die Perspektive erweitern. Denn wieviel bedeutet Europa noch im globalen Kontext? Und wieviel wird es noch bedeuten, wenn sein Stabilitätsanker reißt, weil Deutschland sich zu Tode verzichtet hat? Während China die Seidenstraße ausbaut, bewältigt man in Berlin schuldbewußt die unschuldige Mohrenstraße.

In der DDR kursierte ein Witz: Was wird in 100 Jahren über uns im Lexikon stehen? Antwort: Ein kleines zänkisches Volk am Rande Westchinas. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung leuchtet die Pointe ein.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Verwandlungen des Totalitarismus („Eine Versuchsanordnung“, JF 49/20).

Foto: Bundeskanzler Konrad Adenauer am 9. April 1953 auf den Stufen zum Kapitol in Washington D. C. bei seinem ersten Staatsbesuch in den USA: Adenauer hatte klare Vorstellungen davon, wie das zerrissene und kompromittierte Deutschland seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen sollte.