© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Rückkehr zu Maß und Mitte
Zhao Tingyang empfiehlt das altchinesische Tianxia als Gegenentwurf zur neoliberalen Unordnung
Dirk Glaser

Im 11. Jahrhundert v. Chr. trug sich in China historisch verbürgt zu, was sich nach dem eher legendären Bericht der Bibel etwa gleichzeitig auch in Palästina abgespielt haben soll: David besiegt Goliath. Im Fernen Osten fiel die Rolle des riesenhaften Vorkämpfers der Philister dem tyrannischen Herrscherhaus der Yin-Shang (1319–1046 v. Chr.) zu, während Zhou unter seinem tugendhaften König Wu ein bis dahin unbedeutender, zur Hälfte von Ackerbauern und Nomaden besiedelter Kleinstaat im Nordwesten Chinas, den Part des scheinbar chancenlosen jüdischen Helden David vorwegnahm. 

Das politische Zentrum der Yin-Shang lag in der Zentralebene, verfügte über eine hochentwickelte Landwirtschaft und Technologie und hatte vermutlich eine Bevölkerung von über einer Million Menschen. Der Kleinstaat Zhou dagegen zählte kaum 70.000 Einwohner. Entsprechend kümmerlich war sein militärisches Aufgebot. Verstärkt wurde es zu Beginn des Krieges gegen Yin-Shang jedoch durch Kämpfer jener befreundeten Kleinstaaten, die Zhou aufgrund des hohen Ansehens, das sein tugendreicher König Wu genoß, militärische Unterstützung gewährten. Daher konnte das vereinigte Zhou-Heer die weit überlegene Shang-Streitmacht in einem raschen Feldzug niederringen. 

Für die sich nun für fast 1.000 Jahre etablierende Zhou-Dynastie ergab sich aus dem Überraschungssieg jedoch das Problem, „wie ein Kleiner das Große, ein Einzelner die Vielen“ regieren soll. Denn die personellen und materiellen Ressourcen des Königs Wu reichten bei weitem nicht aus, um sich einfach auf Shangs Thron zu setzen und sich das eroberte Territorium nach herkömmlicher Art zu unterwerfen. Befand sich das Land doch weiter in Aufruhr, die Zahl loyaler Lehnfürsten des Yin-Shang-Königshauses war noch gefährlich groß, dazu kamen notorisch rebellische Stämme und Forderungen der Stammesfürsten aus Wus eigener Allianz. „Die Lage war chaotisch, es bedurfte einer allgemeinen Befriedung“. In dieser welthistorisch „einzigartigen Sondersituation“ konnte die Zhou-Dynastie nur überleben, indem sie ihre Macht auf das Prinzip „Kooperation und Koexistenz“ gründete.

Mit dieser Einsicht, so schließt der Pekinger Staatsphilosoph Zhao Tingyang seinen Ausflug in die Geschichte des antiken China, schlug die Geburtsstunde einer neuen Weltordnungsformel und eines zentralen Begriffs der chinesischen politischen Philosophie: „Tianxia“ – „Alles unter dem Himmel“. In seinem so betitelten Werk, dessen deutsche Übersetzung kurz nach dem Erscheinen 2020 bereits vier Auflagen erlebte, entfaltet er Tianxia, den „Kernbegriff tugendhaften Regierens“, zur Alternative zum westlich-kapitalistischen Ordnungsmodell, das  menschliches Dasein nicht als Koexistenz, sondern als Konkurrenz versteht und organisiert.

Das in Jahrhunderten in einer hierarchisch gegliederten Agrargesellschaft ausgereifte Tianxia-Konzept, ähnelt in Zhaos Deutung in seinen Grundzügen deutschen konservativen Sozial- und Wirtschaftsmodellen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie noch in frühen Globalisierungskritiken wie Herbert Gruhls „Grenzen des Wachstums“ aufzeigenden Streitschrift „Ein Planet wird geplündert“ (1975), Ernst Friedrich Schumachers die „Rückkehr zum menschlichen Maß“ propagierendem „Small ist beautiful“ (1973) oder Erich Fromms von fernöstlichen Weisheitslehren inspiriertem Essay „Haben oder Sein“ (1976) nachklingt. 

Anders als das westliche, von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt die Welt in Freund und Feind einteilende Konkurrenzsystem, das Individuen und Staaten unter das Gesetz der Mensch und Natur ausbeutenden Nutzenmaximierung, die „Logik des Geldmachens und des sinnvergessenen Produzierens um seiner selbst willen“ (Robert Kurz, „Schwarzbuch Kapitalismus“, 1999) stellt, empfiehlt sich Tianxia für Zhao als eine politische Kultur, die Teilhabe statt Ausgrenzung, Frieden, Gerechtigkeit, Stabilität und auskömmliche Existenz für die breite Masse verspricht.

Zhao greift „postnationalen Konzernimperialismus“ an

Also exakt das Gegenteil jener Zustände, die die zweite Globalisierung der Menschheit seit den 1970ern beschert habe. Die ihren Kurs bestimmenden neoliberalen „Imaginationen“ mit ihren verwüstenden „praktischen Auswirkungen“ seien ungeeignet, um die allein „akzeptable Lebensform“ der Kooperation zu realisieren. Eine „Ordnung des guten Lebens“ könne es unter den Bedingungen einer vom Geist der Profitsteigerung angetriebenen Globalisierung auch nicht geben. Denn „Technik und Kapital, in der Anwendung ihrer Mittel so rational und effizient wie in der Verfolgung ihrer Zwecke irrational und zerstörerisch, haben keinerlei Interesse am Weltgemeinwohl und sind blind für die Gefahren unbegrenzten Wachstums“.

Diese unter US-Herrschaft ablaufende „imperialistische Dominierung und Ausbeutung des ‘Restes der Welt’“ habe offensichtlich zur aktuellen „Unord-nung der Welt als Ganzes“ geführt. Und die politische Philosophie des Westens, Zhao nennt hier neben dem „Gerechtigkeitstheoretiker“ John Rawls nur den „Diskursethiker“ Jürgen Habermas, sei mit ihrem schamanistischen Menschenrechts-Mantra ebenso offensichtlich unfähig, realistische Abhilfe zu rezeptieren. Weder Rawls noch Habermas würden verstehen, daß ihre „Politik der Menschenrechte“ der Herausforderung durch wirklich tiefgreifende, existentielle Interessen- oder kulturelle Konflikte nicht standhalte.

Der Rückgriff auf ein modernisiertes Tianxia, der für Zhao einen weltrevolutionären Bewußtseinswandel voraussetzte, ist allerdings selbst einem Denker zweifelhaft, der das Ohr der kommunistischen Partei- und Staatsführung haben soll. Welche Macht, so zitiert er kritische Fragen von US-Politologen, wäre heute allein stark genug, um den USA, der als neokolonialistisch angeprangerten EU und vor allem dem, wie Zhao überzeugt ist, den Planeten in den Untergang steuernden „postnationalen Konzernimperialismus“ (Silvio Vietta, 2012) von Big Tech und Big Data Paroli zu bieten? 

Genau: nur China! Aber den damit insinuierten Schluß, seine Wiederbelebung des Tianxia-Systems sei der durchsichtige Versuch, Chinas Weltherrschaftsanspruch zu rechtfertigen, weist Zhao mit dem Argument zurück, das heutige China könne mit seiner Nachahmung der westlichen Verabsolutierung des profitgierigen Machbarkeitswahns und des Freund-Feind-Denkens nie den integrativ-harmonischen, die Grenzen zwischen Innen und Außen auflösenden Tianxia-Ansprüchen genügen. 

Daß Chinas Führung tatsächlich keine alternative Weltordnung plant, sondern nur die USA unter Beibehaltung der kapitalistischen Spielregeln als Hegemon ablösen will, davon sind die beiden Chinaexperten Clive Hamilton und Mareike Ohlberg überzeugt. Anfang des 21. Jahrhundert hat das Reich der Mitte, das unter Mao bereits die westliche Ideologie des Kommunismus importiert hatte, sich definitiv auf westlichen Industriestandard umgestellt und ist so zu einer „Führungsmacht der Rationalitätskultur“ (Vietta) geworden. 

Eine Macht, die, wie Hamilton und Ohlberg in ihrer materialreichen Durchleuchtung der immer stärker werdenden chinesischen Lobby-Politik in der EU und in Nordamerika belegen, mit systematischer Beharrlichkeit das Ziel verfolge, dort die demokratischen Strukturen zu unterhöhlen und die politisch-ökonomischen Eliten des Westens zu Kollaborateuren Pekings zu erziehen. 

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, gebunden, 266 Seiten, 22 Euro

Clive Hamilton, Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. Deutsche Verlagsanstalt, München 2020, gebunden, 495 Seiten, 26 Euro