© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Frühe Subjekte des Völkerrechts
Kolonialvölker: Akzeptierte Vertragspartner
Oliver Busch

Als Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Eigenschaft als Hofarchivar des Kurfürsten von Hannover 1693 eine Sammlung von Verträgen zusammenstellte, kam er auf überschaubare 224 Aktenstücke. Derzeit, so hat der Ideenhistoriker David Armitage (Harvard) recherchiert, sind 50.000 bilaterale und multilaterale zwischenstaatliche Abkommen in Kraft. Das ist binnen 328 Jahren eine Zunahme um den Faktor 2.000. Die heutige Menschheit gleiche darum einem globalen Gulliver, eingesponnen in ein weltweites Netz von Verträgen (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2021). 

Diesem spezifisch neuzeitlichen Phänomen der Ausbreitung von Verträgen, begleitet von der seit Mitte des 17. Jahrhunderts in der Diplomatenausbildung verlangten vertieften Kenntnis des Völkerrechts und der professionalisierten Technik der Verhandlungsführung sowie dem unter den europäischen Gebildeten erwachenden „Vertragsbewußtsein“, haben ausgerechnet Ideenhistoriker bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In diese Kritik bezieht sich Armitage ausdrücklich mit ein. 

Denn bei John Locke (1632–1704), einem der wirkungsmächtigsten politischen Philosophen der Neuzeit, den er intensiv studierte, habe er sich stets auf dessen fundamentalen Beitrag zur Theorie des Gesellschaftsvertrags konzentriert, während er den Teil des Werkes, der zur Freilegung der Ideengeschichte der Verträge vorzüglich tauge, schlicht übersehen habe. Lockes Anstrengungen, Beziehungen zwischen Völkern und Staaten zu begreifen und daraus Normen für die Weltgesellschaft seiner Zeit abzuleiten, so gab er noch 2012 zu Protokoll, „sind ziemlich kurz und sporadisch gewesen“.

Erst die genauere Kenntnis der beruflichen Karriere des Philosophen zwang ihn nun zur Revision dieses voreiligen Urteils. Denn Locke war seit den 1650ern immer wieder als Beamter in die atlantische Kolonialverwaltung eingebunden gewesen, von Irland über die Karibik bis hin zu den neuenglischen Kolonien in Nordamerika. Aus seiner Feder stammt eine Art Verfassung der Kolonie Carolina (1698). Deren Inhalt die historisch ungebildeten, doch medial omnipräsenten Trommler gegen „weiße Vorherrschaft, Kolonialismus und Rassismus“, durchaus überraschen dürfte. Im Abschnitt über vertragliche Beziehungen zu indianischen Nachbarn werden diesen wie selbstverständlich die Rechte souveräner Staaten eingeräumt: Kriege zu führen, Bündnisse und Verträge zu schließen.