© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Dem großen Autor fehlte noch Stilsicherheit
Falladas Gerichtsakten förderten 2020 einen unerwarteten literarischen Fund zutage / Sensation bleibt aus
Günter Scholdt

Der Verlag wirbt auf dem Umschlag seiner jüngsten Edition dieses Autors, daß „dank einer wiederentdeckten Gerichtsakte, die auch fünf Erzählungen zum Vorschein brachte, wir Fallada noch einmal neu entdecken“ könnten. „Bislang gänzlich unveröffentlichte oder nur in Teilen bekannte Geschichten“ unterstrichen seine „verblüffende Modernität“. Direkt und einfühlsam schildere er „weibliche Schicksale in einer männerdominierten Gesellschaft“, mache „selbst vor damals tabuisierten Themen“ nicht halt, zeichne „starke Frauen“ in ihrer Auflehnung gegen „vorgezeichnete Muster“ usw. usf. Man kennt diesen Zeitgeist-Slang. 

Es gibt Klappentexte, die Wichtiges enthalten. Dieser kaum. Doch der Reihe nach, zunächst zum Neuigkeitswert: Aus der wiederentdeckten Gerichtsakte von 1926 sind lediglich „Lilly und ihr Sklave“ sowie „Robinson im Gefängnis“ Erstpublikationen. Mit der aus sonstigem Nachlaß ergänzten Betrachtung „Wer kann da Richter sein?“ ergibt das gerade mal 38 von 269 Seiten an tatsächlich neu zugänglichem Fallada-Text. Die übrigen in der Akte enthaltenen Geschichten waren in modifizierter Version bereits anderweitig publiziert, teils in einer Werkausgabe. 

Zur Auffüllung des Bandes kommen knapp 70 Seiten Anhang hinzu, darunter eine weitere Schilderung von Falladas kriminellem Lebensabschnitt durch den immerhin sachkundigen Biographen Peter Walther – also Sekundärliteratur. Die Gerichtsakte selbst (als Tertiärliteratur) wird nicht geboten, dafür ein detaillierter Bericht über deren Auffinden und die Person des Gutachters, womit wir bei Quartärliteratur gelandet sind. Ein wirklich neues Fallada-Bild vermitteln die gerichtsmedizinischen Zusatzinfos nicht, zumal sich wohl niemals klären läßt, inwiefern Fallada sich tatsächlich rückhaltlos äußerte oder seine Aussagen prozeßtaktischem Kalkül folgten. 

Zwar ist dem Fallada-Fan oder -Forscher jede Neuedition lieb und teuer. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Verlag hier etliches mit der Hungerharke einbrachte. Und wo die sozialhistorische Relevanz der Texte größer ist als die literarische, stutzt man ein wenig. Ein Urteil vorweg: Der leider immer noch unterschätzte Fallada ist ein ganz großer Autor. Klassiker des scheinbar Leichten, subtiler Psychologe und milieusicherer Zeichner prekärer Sozialcharaktere. Aber all das belegen diese frühen Erzählungen noch nicht, selbst wenn manche Stellen schon die Klaue des künftigen literarischen Löwen ahnen lassen. 

Es gibt noch keine Stilsicherheit und Souveränität in der von anderen Schriftstellern unabhängigen Einschätzung der Figuren, kein Bewußtsein, daß Schreiben bei aller autobiographischen Besessenheit, die gerade diese Prosa charakterisiert, auch mit Selbstdistanz zu tun hat. Die Texte pendeln zwischen neusachlicher Erzählattitüde („Pogg“), Gartenlauben-Sound (Violet-Szenen in „Der Apparat der Liebe“) und spätexpressionistischer Exaltiertheit („Lilly“). Manches darin erinnert auch von der Egozentrik her an Sternheim. Sentimentalität und Melodramatik (eine Heldin opfert Schmuck, um ihr Schicksal zu beeinflussen) finden sich neben Strindbergscher Geschlechterkampf-Drastik oder einer Art psychoanalytisch-klinischer Sicht auf ein fast notwendiges Scheitern in eroticis. 

Angebliche Tabus waren Mitte der Zwanziger keine

Was nun die soziale Botschaft betrifft: Gegen welche Tabus soll der Autor eigentlich mutig aufbegehrt haben, falls die Texte tatsächlich um 1926 spielen oder geschrieben sind? In der Weimarer Literaturbohème war Frauenemanzipation à la Marieluise Fleißer, Elisabeth Hauptmann oder Irmgard Keun doch geradezu Standard. Auf den Theatern der „Goldenen Zwanziger“ wimmelte es von Ehebruch, Inzest oder Nutten. Und verglichen mit Kästners „Fabian“ oder Brechts „Mahagonny“ agieren im „Apparat der Liebe“ eher Kunst- und Thesenmenschen, die von Freiheit mehr schwärmen als sie tatsächlich leben. Nein, hier hat Fallada thematisch nur dem Zeitstil nachgeschrieben.

Und die angeblich „starken Frauen“? Thilde in „Die große Liebe“ akzeptierte den unverblümt geäußerten Selbständigkeitswunsch ihres bindungsunwilligen Mannes nie und mausert sich im dann ausgebrochenen Geschlechterkrieg lediglich zu einem aggressiven Käthchen von Heilbronn. Marie in ihrer gleichzeitigen Fixierung auf Reinheit und Befreiung erwartet diese ständig von andern Liebhabern oder will sie schenken, während sie ihren Gatten betrügt. Welch traurige Stärke einem Männchen gegenüber, das sie anhimmelt und jeden Verdacht in sich abwürgt. 

Oder belegt etwa „Lilly und ihr Sklave“ die im „Waschzettel“ angepriesene Stärke? Eine lieblose femme fatale, die Männer so lange reizt, bis sie an den brutalen Falschen gerät oder an einen Propheten des Verruchten, als dessen gelehrige Schülerin sie sich erweist. Das hatten wir doch längst um die Jahrhundertwende als schwülstig-dämonisches, ein wenig gynophobes Klischee, von Wedekinds Lulu bis Franz von Stucks Gemälden „Die Sünde“ oder „Salome“. 

Ich zweifle nicht, daß aktuelle feministische Larmoyanz sich in den Texten bestätigt sieht oder sie identifikatorisch goutiert. Doch die gefeierte Sensibilität der hier eingenommenen weiblichen Perspektiven ist zugleich ein Verstecken eigener Sehnsüchte, wie sie etwa im Autoren-Selbstporträt von „Apparat der Liebe“ gipfelt. Die reifste Geschichte ist daher wohl „Pogg der Feigling“, wo der Autor, auf sich selbst bezogen, mit offenerem Visier agiert. Andernorts schilderte er sich als Frauenversteher gemäß Maries bewunderndem Urteil, „wie dieser Menschscheue die Menschen erriet, wie viel dieser, der jede Frau floh, von den Frauen wußte“. Zumindest ebenso gültig für Falladas Frühwerk scheint mir hingegen das vorausgehende Fazit: „Einer, der gelebt hatte, wie man träumt, schuf Leben, einer, der das Leben nur aus Büchern kannte, erschuf sich seine Welt.“






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Literaturwissenschaftler und war Leiter des „Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß“ in Saarbrücken 

Johanna Preuß-Wössner, Peter Walther (Hrsg.): Hans Fallada: Lilly und ihr Sklave. Mit unveröffentlichten Erzählungen. Aufbau Verlag, Berlin 2021, gebunden, 269 Seiten, 22 Euro