© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Der Flaneur
Etwas Schönes dabei
Paul Leonhard

Die Telefonzelle ist besetzt. Der weiße Haarschopf einer älteren Dame leuchtet mir schon von weitem entgegen. Also stelle ich mich etwas seitwärts des gelben Häuschens und sehe Kindern beim Fußballspielen auf der Grünfläche zu. Ein Mann steuert auf mich zu, bleibt etwas zögernd stehen. Ich sehe, daß er unter dem Arm eine Handvoll Taschenbücher hält. „Wollen Sie da rein?“ fragt er und deutet auf die Zelle, in der die Weißhaarige noch immer die Wände studiert. Denn natürlich enthält die Telefonzelle keine Apparatur mehr für Fern- und Nahgespräche, sondern birgt eine andere gefährdete Gattung: Bücher aus Papier.

Klassiker und Schnulzen stehen neben Büchern aus der NS-Zeit.

In ihr wird all das ab- und hineingestellt, von dem sich das alternde weiße Bürgertum nur so ungern trennt, weil einst jede Generation der folgenden auf den Weg gegeben hat: Bücher wirft man nicht weg. Und so stehen Romane, Krimis, Bildbände, Lyrik aus hundert Jahren dicht gedrängt nebeneinander, DDR- und BRD-Ausgaben, dazwischen etwas aus der NS-Zeit gestützt von sowjetischen Revolutionsschnulzen auf dem schlechten Papier der Nachkriegszeit. Hesse, Kafka und die gesamte Familie Mann – von Heinrich bis Golo – wecken in mir Erinnerungen an die Jugendzeit und die netten Buchhändlerinnen, die quer durch die Großstadt ihre Schätze unterm Ladentisch hüteten.

Ich biete dem Mann an, ihm die Bücher ab- und in die Zelle mitzunehmen, sobald die alte Dame ihr Literaturstudium beendet hat. Sie schien Faszinierendes entdeckt zu haben, denn ihr Stoffbeutel füllt sich zusehends. Der Fremde nimmt mein Angebot dankend an und drückt mir den Stapel Krimis in die Hand. Es ist eine Reihe, die einst auch mein Vater meterweise im Regal stehen hatte, ehe sie irgendwann verschwanden.

Sie würden sich verkleinern, erklärt der Mann, da müsse man sich von Sachen trennen. Jeden zweiten Tag komme er hier vorbei, um Bücher abzulegen und, er lächelt irgendwie glücklich, die meisten seien da schon wieder weg. Prompt öffnet sich die Telefonzellentür und die Dame lugt neugierig heraus: „Haben Sie was Schönes für mich?“