© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Fallenlassen geht nicht
Vertriebene: Erneut müssen die Sudetendeutschen ihr Pfingsttreffen verschieben
Gernot Facius

Die Stallwachen in den Prager Ministerien können es sich Pfingsten gemütlich machen, dank Corona: Zum zweiten Mal in Folge ist ein Sudetendeutscher Tag (ST) abgesagt. Damit entfällt für die Ministerialen an der Moldau vorerst die Pflicht, nach „revanchistischen“ Tendenzen zu suchen. 

Das ursprünglich in Hof an der Grenze zu Böhmen geplante Treffen  unter dem Leitwort „Verantwortung für die Heimat – unser Weg in die Zukunft“ soll nun vom 16. bis 18. Juli stattfinden – in München, am Sitz der Landsmannschaft. Das Motto erzwingt eine Antwort auf die Frage, wie ein Dreivierteljahrhundert nach der „organisierten“ Vertreibung Verantwortung für die Volksgruppe definiert und politisch wahrgenommen wird. Zumal im Herbst in Deutschland und Tschechien Parlamentswahlen anstehen. Was ist politisch schiefgelaufen? Wie will man dem Anspruch gerecht werden, einen „Weg in die Zukunft“ zu weisen? 

Ein Sudetendeutscher Tag lebte immer von mehreren Elementen. Er war eine politische Zeitansage, ein Ort des Gedenkens an die Heimat, des Wiedersehens verstreut lebender Landsleute, ein sudetendeutsches Volksfest und eine Brücke nach „drüben“. Daß sich die Funktion des Treffens verändert hat, ist der Zeit geschuldet. Geschwunden ist der Einfluß der „Erlebnisgeneration“ „Von den meist jüngeren Besuchern wird der für ihre Generation relevante Wandel hin zu einem Diskussionsforum, zu einer Demonstration vielfältiger deutsch-tschechischer Projekte akzentuiert“, sagt Elisabeth Fendl, einst Gründungsbeauftragte für das im vergangenen Jahr eröffnete Sudetendeutsche Museum in München. 

Die Zusammensetzung des Publikums hat sich geändert, und auch das Verständnis von der „alten Heimat“. Die Veranstaltung in München wird folglich einen Hinweis darauf geben, wie es mit dem Sudetendeutschen Tag weitergeht. Angesichts sinkender Teilnehmerzahlen denken die Programmacher seit längerem über ein verändertes Konzept nach. „Einfach fallenlassen wird man das Pfingsttreffen nicht“, meint die Volkskundlerin Fendl in der Kulturpolitischen Korrespondenz. „Wie könnte man eine Institution, die man sechs Jahrzehnte lang als konstituierend für die eigene Gruppe beschrieben hat, einfach aufgeben, ohne die Gruppe selbst aufzugeben?“ 

Politik und Emotionen verknüpft

Jedenfalls könne der Sudetendeutsche Tag auch heute noch als ein komplexes, kulturelles und politisches Ritual betrachtet werden. Er stelle, so die Kulturwissenschaftlerin Heinke Kalinke, einen Ort öffentlich zelebrierter Rückschau und gemeinsamen Gedenkens dar, sei geprägt von der starken Verknüpfung von Politik und Emotionen und der „Gleichzeitigkeit von Außen- und Binnenkommunikation“. 

Die Besucherzahlen wuchsen stetig, es gab keine Probleme, gastgebende Städte zu finden – das ist Vergangenheit. Von den 70 bisherigen Sudetendeutschen Tagen fanden 63 in Bayern und Baden-Württemberg statt. Absoluter Spitzenreiter mit 25 Pfingsttreffen ist Nürnberg, gefolgt von München, Augsburg und Stuttgart, mit 13, zwölf und elf derartigen Großveranstaltungen. 1959 war Wien Gastgeber. Das Pfingsttreffen 1990 war das erste wirklich „gesamtsudetendeutsche Treffen“. 2016 besuchte mit dem damaligen tschechischen Kulturminister Daniel Herman zum ersten Mal ein Prager Regierungsmitglied den Sudetendeutschen Tag. Elisabeth Fendl verweist auf eine „Handvoll Begriffe“, die in der langen ST-Geschichte immer wieder in neuen Kombinationen Verwendung fanden beziehungsweise finden. 

Der Begriff „Recht“ führt gemessen an den 66 zu ermittelnden Leitworten die Rangliste mit 32 Nennungen an, gefolgt von „Heimat“, „Europa“ und „Frieden“. In den fünfziger Jahren lag der Begriff „Heimat“ an der Spitze, in den sechziger Jahren war es das Wort „Recht“, in den siebziger Jahren „Freiheit“ und zwischen 1980 und den 2000er Jahren wieder das „Recht“. Anschließend erlebte der Begriff „Heimat“ eine Renaissance, nach 2010 überwiegt „Zukunft“. 

Es sind nicht mehr die Rechtspositionen, die in den Vordergrund gestellt werden, von den Benesch-Dekreten ist nur noch am Rande die Rede. Es dominiert das Kulturelle, das Tschechen und Sudetendeutsche Verbindende. Schon in den achtziger Jahren verschwand der Sudetendeutsche Tag aus dem öffentlichen Raum, es gab keine Fest- und Demonstrationszüge durch die Straßen der gastgebenden Großstädte mehr. „Im Laufe seiner Geschichte wurde der ST immer mehr zu einer internen Veranstaltung“, resümierte die Autorin Fendl. „Allein die Berichte der Presse rücken ihn heute noch in das Blickfeld der Öffentlichkeit.“ 

Aber auch das entspricht nicht ganz der Wirklichkeit. Nur noch wenige Medien schicken Vertreter zu den Pfingsttreffen, allenfalls kurze Agenturberichte finden Eingang in die Zeitungsspalten.  Die elektronischen Medien haben sich weitgehend ausgeklinkt. Und nun hat auch noch die Corona-Pandemie dazu beigetragen, daß das Thema Vertreibung aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt wird. Ob das Juli-Treffen in München  eine Kursänderung bewirkt?