© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Zwei Duos mit acht Fäusten
AfD: Das Rennen um die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl als Teil des innerparteilichen Machtkampfs
Christian Vollradt

Beinahe könnte man meinen, die Wahl ihrer Spitzenkandidaten für den Bundestag sei in der AfD wichtiger als der eigentliche Urnengang im September. Bis Montag noch dürfen alle Parteimitglieder darüber abstimmen: Soll Parteichef Tino Chrupalla gemeinsam mit der Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel das bundesweite Aushängeschild sein? Oder aber die beiden Herausforderer, nämlich die hessische Bundestagsabgeordnete und Beisitzerin im Bundesvorstand, Joana Cotar, sowie der niedersächsische Spitzenkandidat Joachim Wundrak (JF 20/21)? 

Munter teilen Mitglieder in den sozialen Netzwerken Mobilisierungsvideos, bekennen sich zu einer der beiden konkurrierenden Formationen oder offenbaren gar mittels geteiltem Bildschirmfoto ihr Votum. Für die meisten Beobachter gilt das Team Chrupalla/Weidel nach wie vor als Favorit. Der Sachse ist seit 2019 Co-Parteichef und damit der in der Parteihierarchie ranghöchste Bundestagskandidat. Chrupalla repräsentiert mit dem Landesverband Sachsen eines der Schwergewichte in Sachen Wahlerfolg; hinter ihm steht die gesamte Ost-AfD, in der der offiziell aufgelöste „Flügel“ nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. 

„Kampfgewicht“ oder „jemand Neues“?

In einem Rundbrief forderte etwa der Landesvorstand der AfD Sachsen-Anhalt die Mitglieder auf, für Chrupalla und Weidel zu stimmen. Sie brächten „ein enormes politisches Kampfgewicht auf die Waage“. Demgegenüber heißt es in einem Schreiben des rheinland-pfälzischen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Michael Frisch und mehrerer anderer Funktionäre, sie plädierten für „die Wahl des für den zukunftsträchtigen realpolitischen und ‘bürgerlichen Weg’ der AfD stehenden Kandidatenduos Joana Cotar und Joachim Wundrak“.

Der pensionierte Luftwaffen-General, der bisher kein Amt in der AfD ausgeübt hat, setzte sich vergangene Woche in einem Video gegen den Vorwurf zur Wehr, er sei zu unbekannt: „Im Gegensatz zu führenden Politikern dieser Republik betrachte ich meinen Eid auf das deutsche Volk weder als Lippenbekenntnis noch als Folklore.“ Er sei und bleibe weiterhin ein „Diener Deutschlands“. Aus diesem Grund sei er in die AfD eingetreten. Sein Ziel sei es, Mehrheiten zu erlangen, und das gelinge nur durch „Seriosität und Kompetenz“. 

Zu denen, die das Duo Wundrak/Cotar – Motto: „Zeit für Neues“, ergänzt mit der Unterzeile „Jemand Neues“ – offen fördern, gehören der Parteivorsitzende Jörg Meuthen und seine Unterstützer. Jeder Prozentpunkt zugunsten der Herausforderer gegenüber den Favoriten wird daher auch als Teil des mitunter erbittert geführten Machtkampfs der parteiinternen Widersacher interpretiert. Alice Weidel, die bereits 2017 Spitzenkandidatin war und seit vier Jahren der Fraktion gemeinsam mit Gauland vorsteht, bekam unterdessen am Wochenende Rückenwind aus dem heimatlichen Baden-Württemberg. Dort erhielt sie mit 71 Prozent die größte Zustimmung der teilnehmenden Mitglieder bei der Briefwahl für die Landesliste. In einem zweiten Wahlgang werden noch weitere Kandidaten gewählt, die das Quorum von 50 Prozent erreichen müssen. Über die endgültige Reihenfolge wird dann im dritten Wahlgang vom 3. bis 12. Juni entschieden. 

Auch im größten Landesverband in Nordrhein-Westfalen wurden die ersten Plätze auf der Bundestagswahlliste vergeben. Die Delegierten wählten den Landesvorsitzenden Rüdiger Lucassen auf Platz eins (JF 20/21). Der verteidigungspolitische Sprecher  gewann mit 264 zu 230 Stimmen gegen seinen Fraktionskollegen Harald Weyel. Platz zwei konnte sich Kay Gottschalk sichern, Vorsitzender des Wirecard-Untersuchungsausschusses. Am kommenden Wochenende muß der Parteitag mit der Wahl ab Listenplatz 10 fortgesetzt werden.

In Mecklenburg-Vorpommern wurde Landeschef Leif-Erik Holm Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, gefolgt vom Parlamentarischen Geschäftsführer Enrico Komning und der Abgeordneten Ulrike Schielke-Ziesing. Spitzenkandidat für die zeitgleich stattfindende Landtagswahl ist der Fraktionsvorsitzende im Schweriner Schloß, Nikolaus Kramer.

Turbulenter dagegen verlief der außerordentliche Parteitag der niedersächsischen AfD in Braunschweig. Dort standen Abwahlanträge gegen mehrere Vorstandsmitglieder auf der Tagesordnung, darunter auch gegen den Landesvorsitzenden Jens Kestner, der dem ehemaligen „Flügel“ nahesteht. Ihm und seinen Vorstandskollegen wird seitens der Bürgerlich-Konservativen unter anderem vorgeworfen, die bereits im Dezember gewählte Bundestagsliste bewußt zu hintertreiben. Denn dort setzen sich ausschließlich die Kestner-Gegner durch, was dessen Wiedereinzug in den Bundestag unmöglich machen würde. In seinem Grußwort forderte der Bundesvorsitzende Chrupalla die Mitglieder auf, „von Verletzungen und Demütigungen abzulassen“, nach vorne und nicht zurück zu schauen. Dann mahnte er: „Stellt eine rechtssichere Liste auf“ – eine klare Parteinahme für den amtierenden Vorstand, aber gegen die Mehrheit der anwesenden Mitglieder; von denen nicht wenige Chrupallas Worte mit Buhrufen quittierten. Das Pikante: Auf Platz 1 dieser lediglich vom eigenen Landesvorstand in Zweifel gezogenen Wahlliste steht Herausforderer Joachim Wundrak. 

Ob die aufgebrachten Gegner des Landesvorstands in Braunschweig die für eine Abwahl erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht hätten, blieb am Samstag offen. Der Parteitag mußte wegen drohender Überfüllung abgebrochen werden.