© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Reden wir doch Tacheles miteinander!
Hamed Abdel-Samads neuer Debattenbeitrag zur rechten Zeit: Der bekannte Publizist gibt den Deutschen aufklärerisches Rüstzeug für die „Schlacht der Identitäten“ mit auf den Weg
Michael Paulwitz

Warum schlagen linke Gesinnungswächter Rassismus-Alarm, wenn jemand „Zigeunersoße“ sagt oder Menschen mit Migrationshintergrund nach ihrer Herkunft fragt, schweigen aber, wenn Juden von einem Mob orientalischer Jungmänner auf offener Straße beschimpft und geschlagen werden? Das ist nicht einfach nur Doppelmoral, das ist Rassismus per Definition, sagt Hamed Abdel-Samad.

Der aus Ägypten stammende Sozialwissenschaftler spricht Klartext zu den judenfeindlichen Ausschreitungen, die den Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel auf deutschen Straßen spiegeln. In seinem zur rechten Zeit veröffentlichten Debattenbeitrag „Schlacht der Identitäten“ (dtv) versucht er, die Debatte auf eine wissenschaftliche, ideologiefreie Ebene zu heben.

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß Streben nach Homogenität, Gruppenbildung und Abgrenzung kein abstraktes Konstrukt ist, sondern eine anthropologische Grundkonstante, die ursprünglich einen Überlebensvorteil darstellte. Auch Vorurteile gehören zur menschlichen Psyche, weil sie helfen, die Komplexität des Alltags zu bewältigen. Rassismus ist dementsprechend ein „Trieb, den man zähmen, aber nie wirklich überwinden kann“.

Wer bei jeder Gelegenheit die eigene Herkunft betont

„Rassist“ zu sein ist gleichwohl kein Schicksal, denn der Mensch hat die Fähigkeit zur Reflexion und Aufklärung, schlägt Abdel-Samad sein Grundthema an. „Bildung, Ethik und Philosophie haben in der Menschheitsgeschichte unsere Gedanken, Selbstbilder und das Bild der anderen verfeinert und zivilisiert“ – eine Kulturleistung, die der Soziologe auch für die Gegenwart fortschreiben möchte.

Wie immer man das Phänomen benennt: Eine fruchtbare Auseinandersetzung mit „Rassismus“ verlangt eine sachliche Begrifflichkeit. Aus dieser Haltung resultiert seine Kampfansage an den „biologistisch determinierten Rassismusbegriff“ linksliberaler Antirassisten und „Linksidentitärer“, der davon ausgeht, daß Weiße stets diskriminieren und farbige Menschen grundsätzlich nur diskriminiert werden. Rassismus beginnt, wo andere über pauschale Zuschreibungen auf Attribute reduziert und als Masse wahrgenommen werden statt als Individuen, postuliert der Aufklärer Abdel-Samad. Folglich kann sich „ein Rassist auch hinter der Maske eines Antirassisten“ verstecken.

Rassismus als „Privileg des weißen Mannes“ zu betrachten ist für Abdel-Samad unhistorisch. Geschichte verläuft nicht episodisch, sondern als Prozeß. Kolonialismus hat dialektisch auch Fortschritt und Wissenstransfer ermöglicht. Der „weiße Mann“ hat schließlich die Aufklärung hervorgebracht und die Sklaverei abgeschafft, während man in vermeintlich unterdrückten Weltteilen –Türkei, China, die arabische Welt – vielfach daran festhält und eigene Genozide relativiert.

Schuldkomplexe und Selbstabwertung führen deshalb in die Sackgasse. Diese Art „Antirassismus“ ist für Abdel-Samad gefährlich, weil er selbst das Potential hat, die Gesellschaft zu spalten. Ebenso falsch ist es in seinen Augen, Rassismus von der individuellen zur Kollektiverfahrung umzudefinieren, Täter/Opfer-Zuschreibungen an Ethnien oder Gruppen vorzunehmen und somit wiederum „rassistisch“ zu argumentieren. Noch schlimmer sei es, wenn Rassismusopfer und linksliberale Antirassisten Weißen beziehungsweise der Mehrheitsgesellschaft wegen fehlender „Opfererfahrung“ die Berechtigung absprächen, über Rassismus zu reden. Denn das bedeutet in letzter Konsequenz Denk- und Redeverbote, die Kennzeichen von Diktaturen seien und Extremisten in die Hände spielten.

Viele Linksliberale hätten die Neigung, alle Probleme in Migrantenmilieus – Terrorismus, Kriminalität, Desintegration – nur aus sozio-ökonomischer Sicht zu betrachten, als Folge von Armut, Marginalisierung und fehlender Teilhabe, um die Schuld daran der Mehrheitsgesellschaft zuzuschieben. Das Ansprechen struktureller Ursachen, inkompatibler Werte und Traditionen, gelte schon als Rassismus. Dieser „positive Rassismus der gesenkten Erwartungshaltung“, schreibt Abdel-Samad, ist aus Sicht der Betroffenen genauso schädlich wie der harte Rassismus.

Im US-Diskurs werden Angehörige von Minderheiten, die sich der Mehrheitsgesellschaft öffnen und Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen thematisieren, von militanten Einpeitschern und Linksliberalen bevorzugt als „Onkel-Tom-Schwarze“ und „Haussklaven“ abqualifiziert. Die deutsche Entsprechung macht Abdel-Samad etwa bei Publizisten wie Kübra Gümüşay oder Jakob Augstein aus, die kritische Muslime als „Haustürken“ beziehungsweise „Onkel-Tom-Türken“ bevormunden und beleidigen.

Nicht minder kontraproduktiv sind Quoten, die ethnische oder religiöse Trennlinien festschreiben. Der Libanon sei an dieser Art Rassismus zugrunde gegangen, und auch in Deutschland seien zunehmende Segregation und der Rückzug in Parallelgesellschaften zu beobachten. Es sei ein Fehler gewesen, im Westen Multikulturalismus als von oben verordnete Doktrin einzuführen. Das befeuert nach Abdel-Samads Überzeugung den Kulturkampf; ein Miteinander von Kulturen könne sich nur natürlich entwickeln. Die Denkmalstürzer, die Zeugnisse der Vergangenheit säubern wollen, um Schuldkomplexe zu verfestigen, stellt er auf eine Stufe mit den Taliban.

Deutsche brauchen eine selbstbewußte Identität

Ähnliches gilt für verordnete Sprachregelungen. Diktierte Sprachregelungen verändern nicht die Art zu denken. Historisch hat die Aufklärung eine Sprache der Toleranz hervorgebracht, und nicht umgekehrt. Von Denkverboten und erzwungener Sprachkosmetik profitieren letztlich Islamisten, die so zu staatlichen Partnern aufgewertet werden und im Windschatten des amtlichen Kampfes gegen Rassismus ungestört ihre Ideologie verbreiten können. Das Ergebnis sind mehr Islamismus und Desintegration und auf der anderen Seite mehr Mißtrauen.

Abdel-Samad hat Verständnis für die Mehrheitsgesellschaft, wenn sie Erdoğan-Anhänger und türkische Nationalisten als Nicht-Deutsche sieht, auch wenn sie hier geboren sind, und ebenso für autochthone Deutsche, die der reflexartigen Rassismusvorwürfe und „Nazi-Keulen“ überdrüssig sind und deswegen das Interesse an Kommunikation mit Menschen mit Migrationshintergrund verlieren.

Die Forderung, Stereotype zu hinterfragen, richtet Abdel-Samad deshalb explizit auch an Migranten selbst, namentlich solche aus dem muslimischen Kulturkreis. Wer auf die Frage eines Deutschen nach der Herkunft beleidigt reagiert, aber selbst bei jeder Gelegenheit die eigene Herkunft thematisiert, um sich von „den Deutschen“ abzugrenzen und diese als „Kartoffeln“ oder „Nazis“ diffamiert, ist eben selbst ein Rassist, solange nicht das gleiche Prinzip für alle gilt. Islamisten und Vertreter von nationalistischen Migranten-Verbänden, weiß Abdel-Samad sehr gut, schlagen daraus routiniert Kapital. Sie pflegen selbst rassistisches und antisemitisches Gedankengut, kontern aber jede Kritik daran mit dem Vorwurf des „Rassismus“ und der „Islamophobie“.

Hart ins Gericht geht Abdel-Samad gerade mit jungen, gebildeten Migranten: Sie hätten die Chance, sich vom ideologischen Gepäck ihrer Herkunft und Vorfahren zu befreien, lassen sich aber vielfach dennoch zu Kriegern im Kampf der Kulturen machen. Die Dauerklagenden unter ihnen erinnern ihn an Patienten mit „Münchhausen-Syndrom“, die Schmerzen vortäuschen, um Mitleid und Aufmerksamkeit zu erregen. Der Opferstatus ist für sie ein Privileg und eine Machtposition, die sie nicht aufgeben wollen.

Abdel-Samads Suche nach „Wegen aus der Rassismusfalle“ fällt deutlich knapper aus als seine Lageanalyse. Die autochthonen Deutschen, argumentiert er, bräuchten jenseits nationaler Neurosen und der Fixierung auf vergangene Schuld eine selbstbewußte Identität. Die Öffnung der deutschen Identität setze die Öffnung der Minderheiten für die deutsche Identität voraus: „Eine auf Schuld basierende Identität ist weder für autochthone Deutsche noch für Migranten attraktiv. Deutschland braucht deshalb ein positives Nationalbewußtsein, ohne in Nationalismus zu verfallen.“

Abdel-Samad setzt ganz im Geist der Aufklärung auf Individualismus und Bereitschaft zur Selbstbefreiung, die er gerade auch von Migranten einfordert. Die wenigsten freilich dürften bereit sein, sich so wie er vom mitgebrachten Gepäck an Vorurteilen und kulturellen Prägungen zu lösen und auch dem einheimischen Deutschen seine Unsicherheiten und Ängste zuzugestehen, um gemeinsame Interessen und Gesprächsgrundlagen zu deren Überwindung zu finden.

Die entscheidende Frage bleibt daher ungestellt: Wie muß Zuwanderung richtig gesteuert werden, damit vor allem solche Migranten ankommen, die auch die Bereitschaft zur Mitwirkung an seinem Ideal der „empathischen Gesellschaft“ mitbringen?

Hamed Abdel-Samad: Schlacht der Identitäten. 20 Thesen zum Rassismus – und wie wir ihm die Macht nehmen, dtv-Verlag, München 2021, gebunden, 144 Seiten, 14 Euro 

https://jf-buchdienst.de

Foto: Hamed Abdel-Samad, Publizist, Politikwissenschaftler und prominenter Islamkritiker: Eine Auseinandersetzung mit Rassismus, die fruchtbar sein soll, verlangt eine sachliche Begrifflichkeit. Und auch Vorurteile gehören zur menschlichen Psyche – so viel Ehrlichkeit bringt nicht jeder auf