© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Kostspieliger Kleinkrieg
Nahost-Konflikt: Die Hamas-Geschosse können gegen Israels Abwehrsystem „Iron Dome“ wenig ausrichten
Marc Zoellner

Mohammed Dschawad Zarif nahm kein Blatt vor den Mund: „Die einzige Absicht von Israels scheinheiligen Gesten ist es, die islamische Welt zu spalten und das Volk der Palästinenser zu isolieren“, beschwor der iranische Außenminister seine Amtskollegen während einer Online-Krisensitzung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) vergangenen Sonntag. „Dieses kriminelle und völkermordende Regime hat einmal mehr bewiesen, daß freundliches Entgegenkommen seine Greueltaten nur verschlimmert.“

Vergangenen Montag war der Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Hamas erneut eskaliert – ein Konflikt, in welchem der Iran als  Schutzmacht der radikalislamischen Organisation, die in Europa, den USA sowie in Ägypten als Terrorgruppe gelistet wird, sich nicht scheut, auch selbst unterstützend einzugreifen. 

Auslöser der Zusammenstöße war die Räumung mehrerer von Palästinensern bewohnter Häuser im Ostjerusalemer Stadtteil „Scheich Dscharrah“. Bis zum Israelischen Unabhängigkeitskrieg galt dieses Quartier als jüdische Siedlung; unter jordanischer Besatzung wurde der Stadtteil hingegen durch Einwanderer arabisiert, der jüdische Bevölkerungsanteil nach Westjerusalem vertrieben. Im Jahr 1982 sprach das israelische Oberste Gericht den Vertriebenen die Rechtmäßigkeit ihrer Eigentumsansprüche zu. Die dort wohnenden Palästinenser durften laut Beschluß hingegen bleiben, solange sie Miete an die israelischen Eigentümer zahlten.

Anfang Mai kam es aufgrund selbigen Urteils zu Zwangsräumungen in Scheich Dscharrah. Proteste aufgebrachter Araber entzündeten sich auf dem Tempelberg. Die Hamas stellte Israel ihr folgenschweres Ultimatum: einen bedingungslosen Abzug der israelischen Sicherheitskräfte aus dem umstrittenen Quartier bis zum Montag, dem 10. Mai. 

Noch in derselben Nacht schossen die Radikalislamisten die ersten Raketen vom Gazastreifen auf israelisches Terrain. Bis Ende vergangener Woche wurden fast 570 durch die Angriffe verwundete sowie neun getötete israelische Zivilisten gezählt, darunter auch arabischstämmige Israelis wie die Schülerin Nadine Awad.

Hoher Blutzoll auf palästinensischer Seite

Auf  der anderen Seite vermeldete das palästinensische Gesundheitsministerium über 1.300 Verwundete sowie weitere 200 getötete Zivilisten und Kämpfer. Nicht sämtliche der Opfer kamen durch die israelischen Gegenangriffe auf den Gazastreifen ums Leben – auch fehlgezündete Hamas-Raketen sollen für Tötungen auf eigenem Gebiet verantwortlich sein. 

Immerhin stieg mit der Zahl der auf Israel verschossenen Raketen auch die Anzahl mißglückter Starts an. Und die Feuerfrequenz ihrer im Iran fabrizierten Geschosse, die mittlerweile eine Reichweite von 250 Kilometern erzielen und somit beinahe jede Stadt Israels unter Beschuß nehmen können, haben die Hamas-Militanten in den vergangenen Tagen massiv erhöht: Zählten die „Israelischen Verteidigungsstreitkräfte“ (IDF) bei Ausbruch des Konflikts im der vergangenen Woche am Montag noch 150 auf Israel binnen eines Tages abgefeuerte Raketen, betrug deren Anzahl nur zwei Tage später bereits weit über 1.000 Stück. Bis Dienstag wurden insgesamt über 3.350 Raketen registriert, von denen ein Großteil abgefangen werden konnte und weitere 500 Raketen ihr Zielgebiet verfehlten und noch auf dem Gebiet des Gazastreifens einschlugen; oftmals selbst in bewohnten Gegenden.

Für die Israelis ist der „Iron Dome“, das vor elf Jahren installierte Raketenabwehrsystem der IDF, in diesen Tagen ein ungeahntes Glück: Zwar landen viele der unkontrolliert abgefeuerten Hamas-Geschosse in ortsfernen Gegenden. Von den auf Städte zufliegenden Raketen hingegen vermag der Iron Dome immerhin gut 90 Prozent noch in der Luft abzufangen.

 Von den USA im Jahr 2014 mit rund 225 Millionen Dollar gefördert, besitzt Israel mittlerweile zehn Raketenabwehrbatterien, die in Reichweite des Gazastreifens sowie an der Grenze zu Syrien und dem Libanon stationiert sind. Die Hightech-Waffen kosten in der Herstellung pro Stück über 50 Millionen US-Dollar; eine einzelne Abwehrrakete, von denen jeweils zwei zur Zerstörung einer Hamas-Rakete benötigt werden, weitere 40.000 US-Dollar. Für Israel ist der Krieg der Hamas von daher vor allem eines: kostspielig.

Dies erklärt, warum die israelische Regierung keine effektiven Gewinne aus dem jüngsten Konflikt erzielen kann. Ganz im Gegensatz zur Hamas: Noch Ende April erklärte der palästinensische Präsident Mahmud Abbbas, der gleichzeitig Vorsitzender der mit der Hamas verfeindeten Fatah-Bewegung ist, die für den 22. Mai geplanten Parlamentswahlen für verschoben. 

Im Zuge dieser Wahlen gedachte die Hamas ursprünglich, ihren eigenen sowie den Machtbereich des verbündeten Iran auch auf das unter Fatah-Kontrolle stehende Westjordanland auszudehnen. Den im Mai eskalierten Konflikt nutzt die Hamas seitdem auch als Machtdemonstration und Kampfansage an die Fatah – mittels aufgewiegelten arabischen Protestlern nicht nur im Westjordanland, sondern ebenso in mehreren israelischen Städten. 

Deren Verluste werden, wie auch im Gazastreifen, von der Hamas als Kollateralschäden und „Märtyrer“ deklariert. Mit den für Juni anstehenden iranischen Präsidentschaftswahlen, bei denen sich die theokratischen Hardliner einen weiteren Wahlerfolg gegen das Lager der Reformer erhoffen, ist ebenfalls die Position des Iran eher innenpolitisch-strategischer Natur.

USA gegen eine Verurteilung  beider Nationen 

Während die OIC, getrieben von Teheran, die Schuld an der Eskalation dem Staat Israel anlastet, verurteilten speziell westliche Staatsführer explizit die Raketenangriffe der Radikalislamisten und betonten das Existenzrecht Israels. Als Unterhändler bat Ägypten beide Seiten am Sonntag um einen baldigen Waffenstillstand.

 Auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres forderte, „die Kämpfe sofort einzustellen.“ Eine Verurteilung beider Nationen blockierten die USA vergangenes Wochenende im UN-Sicherheitsrat unter dem Verweis, eine solche Verurteilung würde „den Konflikt nicht entschärfen“, sondern einzig diplomatische Verhandlungen. 

Als Verbündeter des Iran sprach sich der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Vershinin, vor dem UN-Sicherheitsrat dafür aus, „den Status quo an den heiligen Stätten strikt zu respektieren“ und erklärte Rußlands Nichtanerkennung von demographischen Veränderungen in Ostjerusalem. 

Meinungsbeitrag Seite 2