© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Fast fertig – und umstrittener denn je
Nord Stream 2: Das deutsch-russische Gaspipeline-Projekt steht kurz vor der Vollendung / Nicht nur die USA wollen das verhindern
Josef Hämmerlein

Noch 2011 war die Zustimmung für das Erdgasprojekt Nord Stream groß. „Energieversorgung wird gesichert“, „Genügend Erdgas für Deutschland“, „Saubere Energie“. So lauteten damals die Schlagzeilen. Und selbst die sonst in Energie- und Umweltfragen kritische Zeit veröffentlichte in ihrer Online-Ausgabe am 6. September 2011 einen zustimmenden Artikel.

Ins gleiche Horn blies der damalige Bundeskanzler und seit 2006 amtierende Vorsitzende des Aktionärsausschusses Nord Stream Gerhard Schröder: „Diese Gas-Pipeline wird Europas Energieversorgung deutlich sicherer machen.“ Und bevor Kanzlerin Angela Merkel und Rußlands Präsident Dimitri Medwedew symbolisch den Gashahn aufdrehten, hatte der damalige russische Regierungschef Wladimir Putin noch gejubelt: Mit Nord Stream sei das „Diktat der Transitländer“ beendet.

Tatsächlich war das einer der Hauptgründe für Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Denn zwischen 2005 und 2009 kam es wiederholt zu Streitigkeiten zwischen Rußland und der Ukraine. Hauptgrund war immer wieder die  ukrainische Weigerung, marktübliche Preise zu zahlen, was dazu führte, daß das Erdgas in dem Land billiger war als im Förderland Rußland. Dies wiederum führte immer wieder dazu, daß das russische Energieunternehmen Gazprom die Lieferungen an die Ukraine aussetzte, das Land aber dennoch immer Erdgas aus den Pipelines abzapfte. Die Folge waren mehrfache Minderlieferungen an Südost- und Mitteleuropa, die in der Spitze bei bis zu 90 Prozent (Österreich) lagen und die Energieversorgung der betroffenen Länder massiv gefährdeten.

EU-Kommission stemmt sich dagegen

Dies war dann auch mit einer der entscheidenden Gründe, das bereits ab 1995 geplante Projekt einer Erdgas-Pipeline von Rußland aus durch die Ostsee nach Deutschland zu forcieren. Von Deutschland aus soll das Erdgas weitergeleitet und so die Energieversorgung Europas gesichert werden. Anfang April 2005 kam es dann trotz politischer Widerstände in Deutschland, vor allem aber Ländern wie Polen, Litauen, Estland und Lettland, die ihre Interessen beeinträchtigt sahen, zum Vertragsabschluß.

Nachdem die rot-grüne Bundesregierung im September abgewählt und Angela Merkel im Oktober neue Bundeskanzlerin wurde, wählte der Aufsichtsrat der Pipeline-Betreibergesellschaft NEGP Company auf Vorschlag der russischen Seite Schröder zum neuen Aufsichtsratsvorsitzenden, was in Deutschland Proteststürme auslöste. Diese gipfelten darin, daß Schröder die Verträge des eigenen Vorteils wegen aushandelte. Dies wurde von dem Altkanzler aber immer vehement abgestritten; er habe stets nur die Energiesicherheit im Sinn gehabt. 

Trotz der deutschen innerpolitischen Differenzen begann der Bau der insgesamt 1.224 Kilometer langen Nord-Stream-1-Pipeline am 9. November 2005 im russischen Wyborg und wurde 2012 in Lubmin bei Greifswald beendet. Die aus  220.000 Rohren bestehende Pipeline verläuft – abgesehen von Anfangs- und Endpunkt – ausschließlich durch Seegebiete, die keinem Hoheitsgebiet eines Anrainerstaates zugeordnet sind.

Die durchquerten Seegebiete liegen jedoch in den sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszonen Schwedens, Finnlands und Dänemarks. Aufgrund der deshalb notwendigen Genehmigungsverfahren konnten diese Länder Einfluß auf den Bau der Pipeline nehmen. Laut einer Pressemitteilung der Betreibergesellschaft Nord Stream AG wurden im Jahr 2018 insgesamt 58,8 Milliarden Kubikmeter Gas durch die beiden Röhren der Nord-Stream-1-Pipeline in die EU transportiert. 2019 waren es 58,5 und 2020 sogar 59,2 Milliarden Kubikmeter.

Während also Nord Stream 1 weitestgehend problemlos und ruhig über die Bühne ging, wurden die Proteste gegen Nord Stream 2 immer lauter, vor allem aus den USA. Eine Zäsur bildete die Wahl des Republikaners Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er sah in der Pipeline von Anfang an eine Konkurrenz zu den amerikanischen Erdgasfirmen. Die offizielle Begründung lautete aber immer, daß die deutsch-russische Pipeline ein großes Sicherheitsrisiko darstelle, da durch sie Deutschland und Europa von Rußland abhängig würden. Zudem würden diese Länder dadurch erpreßbar. Auch diene es nicht dem politisch gewollten Zusammenwachsen Europas, da gerade die osteuropäischen EU-Staaten große Nachteile hätten und eine sichere Energieversorgung für sie schwieriger werde. Gerade nach dem Konflikt um die Krim würde Deutschland den „Despoten Putin“ dadurch indirekt unterstützen.

Auf offene Ohren stieß Trump bei den drei EU-Institutionen Kommission, Parlament und dem Europäischen Rat. Diese lehnten die Pipeline von Anfang an ab. So wies die Europäische Kommission mehrfach darauf hin, daß die Pipeline nicht zu den Zielen der Energieunion beitrage, die Versorgungsquellen, Routen und Anbieter zu diversifizieren. Des weiteren wurde auf die großen durch den Bau verursachten Umweltschäden hingewiesen.

Letzterem widersprach die Betreibergesellschaft vehement. Im Mitte April dieses Jahres vorgelegten Umweltmonitoring für das Jahr 2020 heißt es, daß „die Auswirkungen im Einklang mit oder sogar unter den geschätzten Auswirkungen liegen“. Während der Bauphase habe es im Offshore-Bereich lediglich von Anfang an vorhergesagte „lokal begrenzte und kurzfristige Auswirkungen“ gegeben. Wörtlich heißt es in dem Bericht: „Es wurden keine Veränderungen bei den Lebensbedingungen der Meereslebewesen, der Wasserqualität, den Bodensedimenten oder den Strukturen von Plankton und benthischen Gemeinschaften festgestellt, verglichen mit dem Monitoring 2019 vor dem Bau und den Daten der Untersuchungen 2015–2016.“ Auf dem Landgebiet der Pipeline habe es keine negativen Auswirkungen auf Fauna und Flora gegeben. Vielmehr sei sogar eine bislang unbekannte Kegelrobbengruppe auf der russischen Felseninsel Sommers im Finnischen Meerbusen entdeckt worden. Vom Beginn bis jetzt könne das gesamte Projekt unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes als „großer Erfolg“ gewertet werden.

Die Kritik aus der EU und den USA, Deutschland und Europa machten sich durch Nord Stream 1 und Nord Stream 2 zu sehr von Rußland abhängig, wurde vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zurückgewiesen. Vielmehr kann die derzeitige Energieversorgung Deutschlands nach Ansicht der beiden IW-Analysten Hubertus Bardt und Thilo Schaefer als „breit diversifiziert bezeichnet werden“. So mache russisches pipelinegebundenes Gas lediglich ein Drittel des deutschen Gasmarkts aus, das entspreche weniger als sieben Prozent des Primärenergieverbrauchs. Die Versorgungssicherheit sei selbst bei einer vergleichsweise hohen Abhängigkeit gegeben, „da eine wechselseitige Abhängigkeit beider Handelspartner“ vorliege. Die Erlöse aus den Gaslieferungen Rußlands für Deutschland und Europa sind nach Ansicht der beiden Analysten nämlich für den russischen Staatshaushalt zu wichtig. Damit seien gute Voraussetzungen für eine stabile Fortsetzung der Lieferungen gegeben.

Washington droht mit Sanktionen

André Wolf, Forschungsleiter beim Hamburgischen Weltwirtschaftinstituts (HWWI), plädiert dafür, die Vorteile von Nord Stream 2 trotz des Drucks seitens der USA zu nutzen. Das Projekt impliziere nicht nur eine signifikante Kostenersparnis, sondern ermögliche es Deutschland auch, in Zeiten einer wieder zunehmenden politischen Entfremdung zwischen Rußland und dem Westen, auf wirtschaftlicher Ebene die Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Kurz vor Fertigstellung des Pipeline-Projekts hat sich die Konfrontation nochmals verschärft. Ende März 2021 waren laut der Betreibergesellschaft insgesamt 2.339 Kilometer von insgesamt rund 2.460 Kilometern und somit 95 Prozent der Gasleitung in der Ostsee verlegt. 

So kündigte US-Präsident Joe Biden weitere „harte Sanktionen“ wegen dieses Baus gegenüber Rußland und auch Deutschland an, ohne daß diese bislang jedoch konkretisiert wurden. Diese sollen sich gegen alle Bereiche des Projekts richten. Die Spitzenkandidatin der Grünen bei der Bundestagswahl, Annalena Baerbock, forderte ebenfalls den sofortigen Stopp des Weiterbaus der Pipeline. 

Auch aus der CDU mehren sich diese Stimmen. In einem Interview mit MDR Aktuell betonte CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, Nord Stream 2 sei ein „hochpolitisches Projekt“. Möglicherweise sei es zu Beginn tatsächlich ein eher wirtschaftliches gewesen. Aber unter den heutigen Bedingungen der „russischen Aggressionspolitik“ habe Nord Stream 2 eine „klare geopolitische Dimension“. Deswegen müsse das Projekt unbedingt gestoppt werden.

„Nicht akzeptables Vorgehen der USA“

Erfolgreich bei den Bemühungen zum Stopp der Pipeline war fast ironischerweise der Naturschutzbund Deutschland (NaBu). Dieser reichte gegen die vom Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) ausgestellte Genehmigung der Leitung Klage ein. Damit dürfe vorerst nicht im deutschen Teilabschnitt weitergebaut werden, so der Verband. Konkret geht es um die zwei noch nicht fertiggestellten Rohrleitungen in der Pommerschen Bucht in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands.

Dagegen zeigte sich der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, zuversichtlich, daß die Pipeline 2021 noch fertig werde. Zusammen mit Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) hatte Netschajew Ende April die Gaslandestation von Nord Stream 2 in Lubmin bei Greifswald besucht. Beide betonten, man solle bei dem Projekt die Energiefragen in den Vordergrund stellen und nicht die Politik.

Zudem sei die Leitung nach Worten Schwesigs „wichtig für die Verbraucher“, besonders nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte Deutschland verpflichtet, bis Ende kommenden Jahres den CO2-Ausstoß und die Emissionsziele auch für die Zeit nach dem Jahr 2030 konkreter zu regeln. 

In einem Interview mit TAG24 warf der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) den USA ein „nicht akzeptables Vorgehen“ vor. So würden „wirtschaftspolitische Interessen mit politischen vermischt.“ Den Grünen hielt Kretschmer vor, man brauche in der Außenpolitik Kontinuität und Verläßlichkeit. Auch dürfe man ein von Vorgängerregierungen vereinbartes Milliardenprojekt nicht aus innenpolitischen Gründen kaputtmachen. „Das würde weitreichende Folgen haben für das Verhältnis Rußland – Deutschland, das darf auf keinen Fall passieren“, so der CDU-Politiker. Noch schärfer ging der Vorsitzende der Klimastiftung Mecklenburg-Vorpommern und frühere Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) mit den USA ins Gericht. Diese Sanktionsdrohungen seien „völkerrechtswidrig, die Pipeline wird nach geltendem deutschen Recht gebaut“, so Sellering bei der Pressekonferenz zum Start der Stiftung Anfang Mai.

Foto: Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) vor der Gasanlandestation in Lubmin: Die Gaspipeline ist „wichtig für die Verbraucher“