© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Der Geist der Völkerverständigung
Pfingsten ist ein Fanal für Globalisierung. Doch der Weg, den die Bibel weist, ist für das postchristliche Abendland nicht mehr akzeptabel
Dietmar Mehrens

La France était décontenancée“, ließ Catherine Robinet das deutsche Fernsehpublikum am 4. April 2020 via ZDF-„Heute-Journal“ wissen, Frankreich falle es schwer, die Contenance zu wahren. Es sind höfliche Worte, die die französische Generalkonsulin im Saarland wählte, um Empörung auszudrücken. Ohne vorherige Absprachen hatten die Deutschen, etwa im saarländischen Grenzort Großrosseln, die Grenze zu Frankreich geschlossen, um sich vor der Covid-19-Epidemie zu schützen, die beim Nachbarn bereits sichtbar die Sense schwang. Pendler des kleinen Grenzverkehrs waren die Leidtragenden.

Schon warnten besorgte Stimmen vor einem Wiederaufbrechen der deutsch-französischen Verletzungen aus den beiden Weltkriegen. „Wer denkt, nur um dem nationalen Publikum zu gefallen, es wäre jetzt angebracht, Binnengrenzen zu schließen, irrt sich fundamental“, schimpfte einen Monat später der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, einer der Baumeister der neuen, aufgeblasenen EU. Er war offenkundig entsetzt darüber, daß in den Völkern Europas nach Jahren ideologischer Umerziehung zum europäischen Weltbürger auf einmal das wieder Vorrang hatte, was sich bewährt hat, was natürlich gewachsen und nicht durch politischen Größenwahn über sie verhängt worden ist.

Von nationalen Alleingängen ist seitdem immer wieder die Rede gewesen. Zuletzt wurde mit der Framing-Vokabel das Versagen des EU-Chefpersonals bei der Impfstoffversorgung bemäntelt und den beiden großen angelsächsischen Industrienationen eine diplomatisch verpackte Rüge erteilt. Großbritanniens Impferfolg ist nicht nur eine Blamage für die EU, sondern auch für die Legionen von Brexit-kritischen Journalisten, die dem Land nach der als Ketzerei empfundenen Rückkehr zur „splendid isolation“ einen raschen Abstieg prognostizierten.

Nun aber läßt der angelsächsische Weg des „Britain“ beziehungsweise „America first“, den Trump-Nachfolger Joe Biden da, wo es opportun erschien, mit kühlem Kalkül fortgeführt hat, Europa so alt aussehen, daß der seinerzeit (2003) als unerhörte Arroganz aufgefaßte Spruch des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld vom „alten Europa“ heute zutreffender erscheint denn je. 

Hinter dem, was diese wenigen Beispiele zeigen, verbirgt sich eine der größten, vielleicht die nachhaltigste Erschütterung im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie. Viele Europäer spüren sie freilich noch gar nicht richtig, weil Politik und Medien, beide entschieden pro-europäisch eingestellt, gern das Mäntelchen des Schweigens darüber breiten. Denn daß im Kampf gegen die Pandemie auf einmal die eigene Scholle, Nation, Volksgemeinschaft wieder mehr gilt als das Utopia der europäischen Eliten und daß Grenzen schützen können, das ist den Politikern der EU und ihren medialen Wasserträgern so peinlich, als wäre auf einer ihrer vielen Alibi-Konferenzen jemand im Schlafrock erschienen.

Gleichzeitig werden die im Vergleich zu scharfen Grenz- und Einreisekontrollen viel drastischeren Freiheitsbeschränkungen, die den Völkern Europas auferlegt werden, weiterhin als alternativlos verharmlost. Alle möchten doch schließlich gesund bleiben! Schon der britische Philosoph Bertrand Russell wußte: „Hinter vielem, was sich Idealismus nennt, verbirgt sich nur der Wille zur Macht.“

Als vor zwei Jahren die Kathedrale von Notre-Dame, die berühmteste Kirche der Welt und damit ein zentrales Symbol der Christenheit, in Flammen stand, sahen nur wenige darin ein Menetekel für Schlimmeres. Metaphysische Spekulationen sind für den säkularen Rationalisten tabu, nicht jedoch für den gläubigen Christen, der auf der Suche danach, was gegenwärtig auf diesem Globus fundamental falsch läuft, rasch fündig wird. Im Alten Testament stößt er zuhauf auf grausame Plagen für Verstockte und drakonische Strafen für Abgefallene. Die Aufspaltung der Menschheit in Kultur- und Sprachgemeinschaften, die sich so stark voneinander unterscheiden, daß ein globales An-einem-Strang-Ziehen nicht funktioniert, wird ebenfalls als gottgewollt dargestellt – in der berühmten Geschichte vom Turmbau zu Babel.

Die legendäre Baustelle ist der Prototyp jedes globalistischen Großprojektes: Die Bibel schildert, wie sich die Menschheit an einem monströsen Mega-Bauwerk versuchte, das zeigen sollte: Wir sind zu allem fähig, wir können es mit Gott aufnehmen. Der Teufel in Gestalt der Schlange hatte dem Menschen bereits in Eden verheißen, daß er sein werde wie Gott. Nun also der größenwahnsinnige Versuch, zu beweisen, daß Satan recht hatte: „Laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht.“ Wozu? „Wir werden sonst zerstreut in alle Länder“ (1. Mose 11,4)

Der allmächtige Schöpfer sieht in dem Projekt den menschlichen Größenwahn, den Hang zur Hybris: „Sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun“ (1. Mose 11,6). Prompt macht er der Menschheit einen Strich durch die Rechnung, indem er die Nationen- und Sprachgrenzen erfindet. Die göttliche Züchtigungsmaßnahme hat der Turmbau-Erzählung zufolge also zwei Komponenten: eine linguistische, die Sprachverwirrung, und eine geographische, die Zerstreuung. Jede Predigt von der offenen Gesellschaft (JF 17/20) sollte das im Kopf behalten.

Mit dem Erscheinen des Messias auf dieser Welt bekommt die verlorengegangene Einheit eine neue Chance. Christen glauben daran, in dem von Jesus gepredigten Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, die Menschheit unter spirituellem Vorzeichen wieder zusammenbringen zu können. Der Missionsbefehl aus dem Schlußkapitel des Matthäusevangeliums ist das göttliche Gegenprogramm zur geographischen Zerstreuung. Das „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ des auferstandenen Christus läßt keinen Zweifel: Alle sind gemeint, die ganze Welt!

Fünfzig Tage nach der Auferstehung ereignet sich das Pfingstwunder, das gleichsam den Missionsbefehl beglaubigt: Für alle, die durch die Predigt des Evangeliums im Königreich Gottes angekommen sind, egal aus welchem Volk sie stammen, entfällt logischerweise die sprachliche Diversifikation, die zweite Sanktion von Babel. „Wie hören wir sie in unseren Sprachen reden?“ staunen die ethnisch „diversen“ Zeugen des Pfingstgeschehens (Apg. 2). Die Überwindung der Sprachverwirrung darf als ein Unterpfand und zugleich Ausblick auf Gottes zukünftige Welt schon jetzt, da alle noch „in der Welt“ sind, erlebt werden.

Gleichzeitig ist der ausgegossene Geist der Wahrheit, der das Pfingstwunder möglich macht, unerläßlich für die Ausführung des Missionsbefehls, damit Göttliches und nicht Menschliches gelehrt wird: Im Reich Gottes gelten seine Gebote. Missionsbefehl und Pfingstwunder markieren also den Weg, den die Bibel zur Überwindung der Doppelsanktion von Babel weist. Ziel ist ein grenzübergreifendes Friedensreich, in dem alle sich verstehen.

Das säkulare Gegenprojekt dazu ist die von dem Atheisten Karl Marx ausgerufene internationale Arbeiterbewegung, deren Hymne passend auch die „Internationale“ heißt. Proletarier aller Länder sollten sich vereinigen und, als hätten sie die Worte der Schlange im Ohr, mit Gewalt auf dieser Welt ein globales kommunistisches Paradies errichten, ein Paradies jenseits von Eden. Als Kosmopolitismus-Doktrin und Eine-Welt-Vision lebt diese fixe Idee bis heute im linken Milieu weiter und ist von ihren Anhängern mitten ins Herz einer EU getragen worden, deren Eliten den christlichen Glauben abgestreift haben wie einen alten Handschuh und trotzdem von einem universellen Friedensreich träumen, nur daß sie es statt durch Mission durch eine Vernunft-ethik zu erlangen hoffen. 

Der moderne Kosmopolitismus und Globalismus ist aus christlicher Sicht der Versuch des Menschen, die Doppelsanktion von Babel aus eigener Kraft wieder aufzuheben – durch ein Babel 2.0, ein vermessenes ethnosoziales Großexperiment mit ungewissem Ausgang. Immer deutlicher zeichnet sich ab, daß den Tech-Giganten des digitalen Zeitalters dabei eine führende Rolle zukommt. Wer heute von Migrationspakten, von „einer Welt“ und von Globalisierung spricht, denkt kosmopolitisch. Und er denkt Kosmopolitismus mit Marx ohne Gott.

Für eine gottlose Grundhaltung in der EU-Politik gibt es eine Reihe von Indizien: 2004 sollte der italienische Politiker Rocco Buttiglione EU-Justizkommissar werden. Er wurde jedoch vom zuständigen Ausschuß abgelehnt, weil er es gewagt hatte, Homosexualität als Sünde zu bezeichnen. Undenkbar, daß eine von den Werten des Christentums bestimmte EU einen Kandidaten für ein Kommissionsamt zur unerwünschten Person erklärte, nur weil er öffentlich wiederholt, was in der Bibel steht.

Eines der neueren Projekte des paneuropäischen Neomarxismus ist das sogenannte „Menschenrecht auf körperliche Selbstbestimmung“, eine politische Auswirkung des heidnisch-hedonistischen Weltbildes der stark sexualisierten Achtundsechziger: Die „sexuellen und reproduktiven Rechte“ der Frau werden als „grundlegende Menschenrechte“ postuliert und somit die Vernichtung Ungeborener endgültig entkriminalisiert. Ein Recht, dem ungeborenen Menschen seine Würde als Geschöpf abzuerkennen, ist der Bibel fremd. 

Die Weichen für ein nicht-christliches Europa wurden gestellt, als sich im Ringen um den Gottesbezug in der EU-Verfassung zum Entsetzen von Papst Benedikt XVI. und vieler anderer Christen die Atheisten durchsetzten. Gott war dem postmodernen Abendland nicht mehr zuzumuten. Im Vertrag von Lissabon ist statt dessen vage die Rede vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“, Gott gleichsam als Mumie ins Museum gestellt, ein Museum, wie es Notre-Dame war, die abgebrannte Kathedrale. Ein Jahr nach dem fatalen Großbrand begann eine überraschend virulente und zählebige Seuche den Traum vom universellen Kosmopolitismus und dem grenzenlosen Zusammenwachsen der Völker auszubremsen. Ein Schelm, wer dabei denkt, das hätte man kommen sehen können.

Foto: Jean Restout der Jüngere, Ausgießung des Hl. Geistes, Öl auf Leinwand, 1732: Für eine gottlose Grundhaltung in der EU gibt es eine Reihe von Indizien