© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Überparteilicher Ruf nach erinnerungskultureller Wende
Schluß mit der Nüchternheit
(wm)

In seltener Einmütigkeit plädiert das linksliberale Kultur-establishment mit der AfD-Fraktion in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung dafür, die Paulskirche einer gedächtnispolitischen Revision zu unterziehen: Der kriegszerstörte, zum 100jährigen Jubiläum der 1848er-Revolution unter Zeitdruck und mit knappen Mitteln wiedererrichtete Bau entspräche nicht mehr „heutigen Bedürfnissen nach einer Identifikationsstätte“. Ähnlich sieht es Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), wenn sie die damaligen Bauherren ob ihres „erinnerungskulturellen Unvermögens“ schmäht, „freudigen und hoffnungsvollen, im positiven Sinne prägenden historischen Erinnerungen in Deutschland ein Denkmal zu setzen“. Dieser minimalistische Nachkriegsbau künde zu stark von der radikalen Bußhaltung nach dem NS-Desaster, befindet auch eine vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier berufene Expertengruppe. Deren Verdikt steht wiederum, wie der Frankfurter Architekt Philipp Oswalt kritisiert (Merkur, 5/2021), im verblüffend argumentativen Einklang mit der Generalabrechnung des „rechtslastigen“ Architekturhistorikers Norbert Borrmann, der in der traditionslosen Moderne, der alle Repräsentationsbauten der Bonner Republik huldigten, nur „emotionale Leere und symbolische Impotenz“ erkennt. Wenn Grütters und Steinmeier nun eine Neugestaltung der ihnen viel zu „nüchternen“ Paulskirche fordern, um sie für ihre „erinnerungspolitische Offensive“  gegen die „rechtspopulistische Gefährdung der Demokratie“ in Dienst zu nehmen, sollten sie wissen, daß die regierende Große Koalition bei „allen ihrer nationalen Gedenkorte keine glückliche Hand bewiesen hat“. 


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