© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Mit der Grausamkeit des Himmels leben
Heil und Heilung: Christsein ist durch die Corona-Krise in besonderer Weise herausgefordert
Felix Dirsch

An Katastrophen mangelte es in der langen Geschichte des Christentums nicht. Auch die Bibel ist voll davon. Zu allen Zeiten verlangten schicksalhafte Zäsuren (wie Seuchen) nach Erklärungen. Eine der beliebteren früherer Tage war der Hinweis der Prediger auf den Zorn Gottes. Die Redeweise vom Gericht des Herrn bot sich geradezu als Interpretation und Handlungsanweisung für viele an, die sich ändern sollten, damit alles wieder besser würde.

Die Gründe für die Strafe waren zu allen Zeiten vielfältig: persönliche Verfehlungen wie Habgier und Neid, Sittenverfall, aber auch Abweichungen von Glaubenswahrheiten. Der Bischof des spanischen Ortes Zamora, Álvaro y Ballano, ließ 1918, als die Spanische Grippe seine Stadt erreichte, verlautbaren, das Unglück sei „unseren Sünden und unserem Undank geschuldet, für die uns nun der rächende Arm der ewigen Gerechtigkeit heimsucht“. Damit stand der Oberhirte mit seiner Bekräftigung des Tun-Ergehens-Zusammenhanges in einer langen Reihe vergleichbarer Begründungsversuche. Noch in den 1980er Jahren existierte der Topos, der Aids als „Geißel Gottes“ beschrieb. Er fand vor allem in den USA Zustimmung.

Nun ist schon einigen biblischen Autoren klar, daß der Versuch, (kollektiv erlittene) Katastrophen auf moralisch falsches Handeln zurückzuführen, bereits deshalb an seine Grenzen stößt, weil öfter Untadelige betroffen sind. In Genesis 18,23 wird berichtet, daß Abraham die Frage aufgeworfen habe, ob der Herr wirklich Gerechte und Ruchlose gleichfalls vernichten wolle. Hiob ist die zentrale alttestamentliche Figur, an der der Zynismus einer Vorstellung, mit Strafe zur Umkehr zu nötigen, deutlich wird.

Im 18. Jahrhundert zählt zu den meistumstrittenen (auch theologischen) Problemen die Bewertung des Blitzableiters: Ist diese Erfindung wirklich so segensreich, wenn der Mensch mittels bestimmter Techniken nunmehr Unglücksfälle verhindern kann, die man über unvordenkliche Zeiträume als Äußerung des Allmächtigen (und damit als Weckruf) deuten konnte?

Gläubige suchen nach Antworten

Selbst im weithin säkularisierten frühen 21. Jahrhundert kommen Theologen nicht darum herum, Gründe für das Leid zu benennen. Auch heutige Gläubige suchen nach Antworten. Nur noch selten hört man, daß die Pandemie „Folge einer Kette von Schuld und menschlichem Versagen“ sei, „in der sich menschliche Hybris, Stolz, Leichtsinn und Profitgier zu einer unheilvollen Allianz verbinden“. So die Worte des Regensburger Bischofs Rudolf Voderholzer.

Voderholzers Vorgänger im Bischofs-amt, der emeritierte Kurienkardinal Gerhard L. Müller, geht in seinem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit (13. Mai 2020) auch auf eine Pointe theologischer Erklärungsmuster ein, die in der Gegenwart manchen obsolet erscheint: Soll man beten oder lieber die Entwicklung von Impfstoffen priorisieren? Müller betont die Zusammengehörigkeit von Glauben und Vernunft. Er bevorzugt unausgesprochen ein Sowohl-Als-auch: Impfen sei notwendig, aber die existentielle Situation des Menschen werde damit nicht ausreichend berücksichtigt.

Auch in diesem Punkt ist die Situation von Theologie und Glauben eher bedauernswert: Forderungen nach einer Gebetsoffensive – uraltes Feld von Heilsvermittlern – werden weithin als unglaubwürdig erachtet. Die Gesundung von an Covid-19 Erkrankten kann so offenkundig nicht forciert werden. Appelle an den medizinischen Fortschritt bedürfen aber keiner zusätzlichen Absegnung seitens der Kirchen, sind entsprechende Erwartungen doch omnipräsent und glaubensindifferent.

Keiner der Gläubigen dürfte widersprechen, wenn Gesundheit als höchstes Gut eingestuft wird. Dieses Argument wird meist als Grund dafür genannt, wenn es darum geht, die Akzeptanz von gottesdienstlichen Beschränkungen zu rechtfertigen. Welchen Zweck verfolgt aber die Heilung, wenn es keine Heiligung gibt? Daß die meisten Menschen gerne und gesund leben wollen, beantwortet nicht die Frage nach dem Wozu des Daseins. Auch der Gesündeste kann seinen Tod bestenfalls hinauszögern. An der relativen Kürze des Daseins ist nichts zu ändern.

Das Virusgeschehen kann auch im Hinblick auf theologische Deutungskompetenz befragt werden. Der Freiburger Theologe Magnus Striet analysiert in Form eines Essays, der unter dem Titel „Theologie im Zeichen der Corona-Pandemie“ erschienen ist, die „prekäre Rede von Gott“ angesichts der aktuellen Großkrise. Es besteht kein Zweifel, daß der Hochschullehrer zum progressiven Hauptstrom der Zunft zu rechnen ist. Nicht nur die exzessive Verwendung des Gendersternchen zeugt von ostentativ geschlechtsspezifischer Sensibilität. Es ist längst gute Tradition, daß die fortschrittlichen Gottesdenker an den Universitäten die Äußerungen der Vertreter des kirchlichen Lehramtes mit Wonne hinterfragen.

In Fragen der menschlichen Autonomie bietet sich der Rekurs auf den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer an, der in den Jahren seiner Haft intensiv über religionsloses Christentum nachgedacht hat. Moderne Repräsentanten der Disziplin wie Striet stellen, nachdem sich Gott nicht durch unser Tun beeinflussen läßt, den Menschen in den Mittelpunkt. Wenn die Frage „Und Gott?“ nicht mehr gestellt würde, wäre das (Striet zufolge) eine Verarmung für die menschliche Existenz. Die Konfirmation „Ich glaube an Gott“ ist demnach identisch mit der Vorstellung, in echter Liebe getragen zu sein. Eugen Drewermann (als Prototyp eines modernen Theologen) hat diese Zusammenhänge in einem umfangreichen Werk ausgebreitet.

Der vom emeritierten Kurienkardinal Walter Kasper und George Augustin herausgegebene Sammelband „Christsein und die Corona-Krise“ versammelt Beiträge von Autoren, die dem kirchlichen Lehramt in den meisten Fällen nahestehen, darunter die Professoren Karl Wallner, Jan-Heiner Türck und Thomas Söding. Statt des herkömmlich öfters zu bemerkenden triumphalistischen Trends in puncto Ursachen-Allwissenheit wollen die Mitarbeiter schlicht „Leben bezeugen in einer sterblichen Welt“. Papst Franziskus hat ein Geleitwort verfaßt. Im Vorwort schildert Kasper Beispiele, wie dem Einzelnen seine Endlichkeit, um die jeder weiß, in der Pandemie näher gerückt wurde. Große Solidarität und zum Teil heldenhafte Aufopferung zählt er zu den Aktivposten der epochalen Zäsur. Selbst die mediale Seite (Gottesdienste im Livestream!) bleibt nicht unbeachtet, so im abschließenden Aufsatz von Pater Wallner.

Die Coronakrise für Transformationen nutzen

Heinz-Lothar Barth, pensionierter Latinist an der Universität Bonn und bisher hauptsächlich als Autor im Umfeld der Priesterbruderschaft Pius X. in Erscheinung getreten, legte mit seinem Co-Autor, dem Chemiker Josef Heinskill, unlängst eine grundlegende Studie über die „Coronakrise“ vor. Die Akzente sind auffallend kritisch. Anders als die vorher genannten Publikationen werden die Gottesdienstverbote hinterfragt. Das „Ermächtigungsgesetz“ vom November vorigen Jahres betrachtet Barth als inakzeptabel. Der angeblich verschwörungstheoretische Topos „Great Reset“ wird in eine Tradition der katholischen Ablehnung von One-World-Tendenzen gestellt. Beide Autoren kehren hervor, daß führende politische Kreise – und nicht nur in Deutschland – den Einschnitt nutzen wollen, um intendierte Transformationen zu bewirken, die in normalen Zeiten kaum durchzusetzen wären.

Heinskill versäumt nicht, manche Meldungen über die Pandemie als medienhysterisch herauszuarbeiten. Im Resümee wird klar benannt, daß fragwürdige PCR-Tests, falsche Berichte und Todeszahlen, Ausgrenzung von nonkonformistischen Experten und Vernachlässigung von Lockdown-Schäden sowie Impf-Nebenwirkungen das Desaster mitbewirkt haben, das die Zukunft in Eu-ropa (und weit darüber hinaus) noch für längere Zeit bestimmen wird. Der von Informationen regelrecht überschüttete Zeitgenosse, der sich öfter als Orientierungswaise vorfindet, wird Barth und Heinskill für ihre Argumente und die zahllosen Belege dankbar sein, die sie präsentieren.

Walter Kardinal Kasper/George Augustin (Hrsg.): Christsein und die Corona-Krise. Das Leben bezeugen in einer sterblichen Welt. Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2020, broschiert, 200 Seiten, 18 Euro

Heinz-Lothar Barth/Josef Heinskill: Die Coronakrise. Überlegungen aus naturwissenschaftlicher und theologischer Sicht. Alverna Verlag, Wil 2021, broschiert, 300 Seiten, 16 Euro