© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Der Virus wird uns künftig begleiten.“ Die Nachricht des Deutschlandfunks noch im Ohr, frage ich mich, was das für meine Zukunft heißt, zumal ich mir hierauf keinen Reim mehr zu machen vermag. Es fühlt sich so an, als wäre es das erwartete Testergebnis: Resignativ. Vielleicht sind es auch die Medikamente. Doch der „Medizinmann“ darf hier nicht helfen, es wäre ein Akt kultureller Aneignung. Kein Wunder: „Früher Klassenfrage / heute Rassenfrage.“ So streite ich mit dem kanadischen Ladeninhaber im Vorderhaus über die „Black Lives Matter“-Aktivisten, nachdem ich ihm meine neuesten, teils zynischen Zweizeiler (etwa „Police shoots another / George Floyd get’s a brother“) vorgetragen habe. Schließlich können wir uns doch einigen: „Da stecken wir beide nicht drin.“ Das gilt auch für den Adler, der ihn seinerzeit am Himmel kreisend begleitete, während er – damals Einsiedler auf Vancouver Island, dem westlichsten Teil Kanadas – eine Tagesreise zu Fuß unterwegs war zum Dorfladen, dem nächsten Außenposten der Zivilisation. Während er an der Bahngleisstrecke, die er entlanglief, noch darüber grübelte, ob der über ihm kreisende Raubvogel im Schneegestöber ihn als nächstes Opfer auserkoren hatte, ließ der Vogel seinen Vorrat – ein halbes Eichhörnchen, das er in seinem Schnabel trug – vom Himmel direkt vor seine Füße fallen. Vielleicht folgte der Vogel einem Instinkt, als wollte er diesen fremden Artgenossen vor dem Verhungern retten. Bis heute ist ihm die Geste des Vogels ein Rätsel. 


Ebensolche Fragezeichen habe ich bei den sagenhaften Aktiengewinnen, die der Sohn meines Gastronomen erzielt. Wegen der Kosten ist die ganze Familie aus der Kirche ausgetreten, um die knapp zehnprozentige Kirchensteuer auf die Kapitalgewinne einzusparen. Selbst dagegen trete ich am Abend in die Kirche ein: Die Gethsemanekirche bittet zum politischen Gebet – inklusive liturgischem Personal sind wir nur ein halbes Dutzend Personen. Doch welch Überraschung: Auch die Amtskirche wird ins Gebet genommen: „Gib unserer Kirche die Kraft, sich nach dem Evangelium auszurichten, und nicht nach dem Zeitgeist.“ Die Stimme kenne ich! Tatsächlich werden die Fürbitten von einem alten Kommilitonen vorgetragen, den ich seit Jahren nicht mehr gesprochen habe. Außen, am Geländer, sind die Fotos von zehn Fotojournalistinnen aus Weißrußland zu sehen mit jeweils zwei Motiven, einmal von den Demonstrationen gegen die Diktatur Lukaschenkos im letzten Jahr, und einmal ein Motiv aus den jüngsten Tagen, privat und „resignativ“.