© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Die Drei-Meere-Initiative: Projekt mit Potential
Ein Band der Einheit
Wojciech Osinski

In den Verhaltensmustern von Wladimir Putin ist nur selten eine markante Abweichung von den geopolitischen Muskelspielen zu beobachten, die einst in der sowjetischen Machtzentrale allgegenwärtig waren. Jüngstes Beispiel ist die russische Militärpräsenz an der ukrainischen Grenze, die der unberechenbare Kremlchef je nach Bedarf verstärkt oder verringert. In einer „Sondersituation“ wird dann auch schon mal die für eine Angriffshandlung unerläßliche Artillerie in Form von Geschützen und Raketenwerfern in Stellung gebracht.

Der Verstoß Putins gegen bestimmte allgemeine Konventionen wird in manchen europäischen Ländern viel eher verziehen als in Ostmitteleuropa, wo Moskaus Marionetten teilweise noch in den 1990er Jahren ungehemmten Einfluß auf viele Bereiche des öffentlichen Lebens ausüben durften. Mit welchen Schwierigkeiten eine Rückkehr zur Demokratie in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken verbunden ist, verdeutlicht die schwelende Krise in Belarus.

Doch auch der einstige „Satellitenstaat“ Polen steht dreißig Jahre nach dem politischen Umbruch immer noch vor einer Bewährungsprobe. Erst 2005 konnte der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński erste Versuche unternehmen, postkoloniale Spuren abzutragen. Er hatte jedoch einen schweren Stand, zumal bald wieder Politiker an die Schalthebel der Macht gelangten, die sich zuvor erfolgreich zu „Sozialdemokraten“ umtaufen konnten. Die Abhängigkeiten gegenüber Rußland sind noch heute nicht ganz abgebaut. Helfen sollen bei diesem mühsamen Prozeß zahlreiche wirtschaftspolitische Projekte, die sich allerdings nur im Schulterschluß mit Ländern entfalten können, denen ebenfalls ein kräftiges Gespür für die noch nicht abschließend ausgeloteten Gefahren aus dem Osten bescheinigt werden kann.

Warschau versucht seit Jahren, das skeptische Orchester in Brüssel zu überzeugen, daß Wladimir Putin auch künftig an seinem Kurs der wirtschaftlichen Erpressung und politischen Einschüchterung festhalten wird. „Moskau wird nur dann seine Haltung ändern, wenn es den finanziellen Spielraum für Projekte wie Nord Stream -2 verliert“, schrieb etwa Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem Gastbeitrag für die FAZ.

Weitaus mehr als nur ein Gegenentwurf zu der umstrittenen Gaspipeline ist die von der Visegrád-Gruppe inspirierte Drei-Meere-Initiative (Trójmorze), ein Wirtschaftsforum aus zwölf baltischen, ost- und südosteuropäischen Staaten, die sich von der Ostsee bis zur Adria sowie dem Schwarzen Meer erstrecken und vor allem das Ziel verfolgen, sich von der Gasversorgung durch Moskau unabhängig zu machen.

Während das Projekt noch vor einigen Jahren von westlichen Journalisten und einigen unverbesserlichen „Romantikern“ als Phantasma verlacht wurde, nimmt es seit 2016 deutliche Konturen an. Mit seinem derweil auf über eine Milliarde Euro angewachsenen Investitionsfonds ist es stabiler und handlungsfähiger geworden. Alljährlich finden Gipfel statt, an denen auch US-amerikanische Regierungsvertreter teilnehmen. „Die Drei-Meere-Initiative ist ein Kooperationsrahmen, das eine wahrhafte europäische Integration anstrebt“, sagte Morawiecki unlängst auf einer Konferenz des Atlantic Council.

Das jüngste offizielle Treffen der Drei-Meere-Länder fand im Oktober 2020 in Tallinn statt und war von der Corona-Pandemie bestimmt, die in den vergangenen Monaten eine intensivere Kontaktpflege etwas einschränkte. Dennoch wurden in der estnischen Hauptstadt einige institutionelle Innovationen angestoßen, die starken Widerhall erfuhren. Hierzu gehören ein interaktiver Fortschrittsbericht zu den einzelnen Projekten sowie die Einberufung eines technischen Sekretariats. Über den vom ungarischen Premier Viktor Orbán eingebrachten Vorschlag der Einrichtung eines ständigen Generalsekretariats soll bei einem der nächsten Treffen entschieden werden.

Ein gewiß wichtiges Signal, das vom letzten Gipfel ausging, ist die Aufstockung des Investitionsfonds. Dessen größte Teilhaberin, die polnische Entwicklungsbank BGK, gab bekannt, ihre Einlagen von 500 Millionen Euro um 250 Millionen Euro zu erhöhen. Von Bedeutung für die Initiative dürften zudem die dauerhaften Hilfen aus Washington sein, die in Estland noch einmal zugesichert wurden.

Die USA haben angekündigt, mit 300 Millionen Dollar zu unterstützen. Demnach werden die amerikanischen Mittel künftig fast 30 Prozent der von den Drei-Meere-Staaten erbrachten Einlagen ausmachen. Im Herbst 2020 hat das US-Repräsentantenhaus dessen Unterstützung für das Projekt mit breiter Zustimmung abgesegnet. In einem gemeinsamen Kommuniqué haben die ansonsten in vielerlei Hinsicht zerstrittenen Lager die strategische Partnerschaft zwischen den ostmitteleuropäischen EU-Staaten betont und als „sinnvolles Gegengewicht“ zu den wachsenden Machtansprüchen Rußlands und Chinas bezeichnet. Offenkundig haben auch sie erkannt, daß auf dem „alten“ Kontinent ein Bündnis entsteht, das zur Abwechslung einmal den europäischen Zusammenhalt zu festigen vermag – unabhängig von den letzten personellen Rochaden im Weißen Haus.

Bei der von der Visegrád-Gruppe inspirierten Initiative geht es auch um den Ausbau eines Verkehrs- und Bahnnetzes auf einer mitteleuropäischen Nord-Süd-Achse, die irgendwann vielleicht die überlebte Ost-West-Achse ergänzen könnte.

Zwar sind in den Reihen der Demokratischen Partei einige Abgeordnete, die nicht gerade dafür bekannt sind, sich in die mentalen Strukturen ostmittel- und südosteuropäischer Völker hineinzudenken, doch die ersten Amtshandlungen des neuen US-Präsidenten Joe Biden lassen erahnen, daß die Eindämmung des chinesischen und russischen Einflusses in unserer Region ganz oben auf seiner außenpolitischen Agenda steht.

Allerdings ist „Trójmorze“ mehr als nur ein gegen Rußland ausgerichteter Staatenblock im Osten Europas. Es geht um die Schaffung einer gemeinsamen Infrastruktur, folglich den Ausbau eines Verkehrs- und Eisenbahnnetzes auf einer mitteleuropäischen Nord-Süd-Achse, die irgendwann vielleicht die überlebte Ost-West-Achse ablösen oder ergänzen könnte. Neben dem Baltikum und den Visegrád-Staaten umfaßt die Initiative inzwischen Länder wie Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowenien. Interesse zeigen auch Österreich und die Ukraine. Schon jetzt nehmen die „Trójmorze“-Länder circa 30 Prozent der gesamten EU-Landfläche ein. Die ostmitteleuropäischen Länder holen wirtschaftlich auf, deren Bruttoinlandsprodukt wächst während der Corona-Pandemie schneller als in den „alten“ EU-Mitgliedsstaaten. Deutschland profitiert gleichfalls von den Handelsbeziehungen mit den Drei-Meere-Ländern.

Historisch gesehen ist diese Initiative nicht neu. Im Jahr 1915 veröffentlichte der Theologe Friedrich Naumann ein Buch unter dem Titel „Mitteleuropa“, in dem er die Schaffung einer deutschen Einflußzone im Herzen Europas vorschlug. In Polen wiederum, das nach dem Ersten Weltkrieg abermals auf der politischen Landkarte erschien, plädierte der informelle Staatschef Józef Piłsudski für das „Intermarium“-Projekt (Międzymorze), eine erstarkte Konföderation von ostmitteleuropäischen Ländern, die sich gegen die territorialen Ambitionen Rußlands behaupten sollte. Daher bemühte sich Piłsudski etwa regsam um gute Beziehungen mit Ungarn und Rumänien. Die ehrgeizigen Pläne scheiterten daran, daß keine der westeuropäischen Großmächte sie unterstützen wollte.

Der tschechoslowakische Präsident Tomáš Masaryk, bei dem Piłsudskis Intermarium-Konzept eigentlich zunächst Anklang fand, forderte, daß dessen Realisierung im Einvernehmen mit Rußland geschähe. Wie man sich unschwer vorstellen kann, waren Lenins Bolschewiki nicht gerade von den polnischen Plänen begeistert. Obendrein sorgte der tschechoslowakisch-sowjetische Pakt von 1935 für Turbulenzen zwischen Warschau und Prag und ließ die Pläne eines mitteleuropäischen Staatenblocks ohnedies im Papierkorb verschwinden.

Der Wert deutscher Exporte in die Drei-Meere-Staaten übersteigt den Gewinn, den der Außenhandel mit Rußland oder Frankreich abwirft. Wenn diese Tendenz nicht behindert wird, sollten bald auch die letzten kritischen 

Stimmen verhallen.

Zwar bemühte sich die polnische Exilregierung während des Zweiten Weltkriegs um eine Wiederbelebung des Projekts, mußte indes bald einsehen, daß nach 1945 die daran interessierten Länder sich nun im Einflußbereich der Sowjetunion befanden und ihre Entscheidungsmacht in nicht unbeträchtlichem Maße beschnitten war.

Der Zerfall des sowjetischen Imperiums und das Ende der bipolaren Welt im Jahr 1989 erweckten bei den einstigen Intermarium-Verbündeten neue Hoffnungen. Im Jahr 1991 wurde der Warschauer Pakt aufgelöst, acht Jahre später traten Polen, Tschechien und Ungarn der Nato bei. 2004 folgte die EU-Osterweiterung. Spätestens ab diesem Zeitpunkt konnten ostmitteleuropäische Länder wieder gemeinsame Interessen verfolgen. Die Drei-Meere-Initiative gilt dabei als eine Erweiterung des „Intermariums“, reicht sie doch jetzt bis ans Schwarze Meer.

Die heranreifenden Ideen verblieben jedoch lange in den Schubladen „proeuropäischer“ Regierungen, bevor 2016 Kroatiens Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović und Polens Staatspräsident Andrzej Duda das Projekt offiziell ins Leben riefen. Dabei hoben sie hervor, daß „Trójmorze“ keineswegs als eine Alternative zur Europäischen Union zu werten sei (wie es von einigen Nord-Stream-Befürwortern weiterhin dargestellt wird), sondern Ziele verfolgt, die in dieser Region lange stiefmütterlich behandelt wurden. Es geht vornehmlich um die Schaffung neuer Handelswege sowie um die Intensivierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Insbesondere aber auch darum, EU-Gelder vernünftig zu investieren.

Eines der hauptsächlichen Ziele der Drei-Meere-Initiative ist die Schaffung einer Nord-Süd-Erdgasleitung, welche auf der Ostsee-Insel Usedom beginnt und in Kroatien endet. Dieser Plan ist ein Mammutprojekt, das noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Jedoch beginnen schon jetzt die energiepolitischen Diversifizierungsmaßnahmen zu fruchten. Die bereits vorhandenen Vorrichtungen für Flüssiggas tragen zum weiteren Abbau der Abhängigkeiten von Rußland bei. Wichtige Bausteine dieses Vorhabens sind die bereits in Betrieb genommenen LNG-Terminals im polnischen Swinemünde (Świnoujście) und auf der kroatischen Insel Krk.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Trójmorze-Projekts ist die „Via Carpatia“, eine Straßen- und Autobahnverbindung, welche die baltischen Länder sowie ganz Ostmitteleuropa mit Griechenland verbinden soll. Bereits im Bau befindet sich die „Rail Baltica“, eine Eisenbahnstrecke, die von Warschau über Kaunas, Riga und Tallinn nach Helsinki führt. Während der feierlichen Zeremonie zum 230. Jahrestag der Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai in Warschau hat Polens Staatsoberhaupt Andrzej Duda die Bedeutung der baltischen Länder als „Tor nach Skandinavien“ noch einmal nachdrücklich betont. Die Drei-Meere-Partner arbeiten jedoch auch an gemeinsamen Maßnahmen gegen Cyberkriminalität. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß ihr bekanntermaßen sogar ein deutsches Parlament zuweilen schutzlos ausgeliefert ist.

Nicht unerwähnt bleiben sollte im Kontext der Geburtswehen von Trójmorze der Warschau-Besuch von Donald Trump im Juli 2017. Der damalige US-Präsident nahm an dem Drei-Meere-Gipfel teil und sagte dem Projekt finanzielle Unterstützung zu, die erst den Stein ins Rollen brachte.

Welchen Zuspruch die Initiative von da an auch in Europa fand, beweist nicht zuletzt das wachsende Interesse in Berlin und Brüssel. Dank der Mühen des früheren polnischen Chefdiplomaten Witold Waszczykowski (PiS) konnten Länder wie Deutschland sie nicht mehr ignorieren. Nach einem der letzten Drei-Meere-Gipfel mußte sogar Bundesaußenminister und Nord-Stream-Befürworter Heiko Maas zugeben, daß es in Europa an Nord-Süd-Korridoren fehle. 

„Deutschland sollte an seinem Beitrittswunsch festhalten und sich im Sinne einer wohlwollenden Mitwirkungsbereitschaft in die Drei-Meere-Initiative einbringen, um unabhängig von deren weiterer Entwicklung Kooperationschancen auszuloten und Präsenz in der Region zu zeigen“, meint der Osteuropa-Experte Kai-Olaf Lang.

Diese Forderung erscheint plausibel, wenn man bedenkt, daß der Wert deutscher Exporte in die Trójmorze-Staaten inzwischen jenen Gewinn übersteigt, den der Außenhandel mit Rußland oder Frankreich abwirft. Wenn diese Tendenz anhält, sollten bald auch die letzten kritischen Stimmen verhallen.






Dr. Wojciech Osiński, Jahrgang 1979, ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die polnische Justizreform („Keine Belehrungen nötig“, JF 4/21).

Foto: Von Tallinn bis zum Schwarzen Meer erstrecken sich die Staaten der Drei-Meere-Initiative: Der polnische Traum des Intermarium lebt wieder auf