© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Symbol mit Aussicht
Vor hundert Jahren siegten deutsche Verbände am Annaberg gegen polnische Truppen, die entgegen den Ergebnissen der Volksabstimmung in Oberschlesien gewaltsam Fakten schaffen wollten
Stefan Scheil

Auch der Einsatz der „Abstimmungskuh“ hatte nicht ausgereicht. Für jede zugunsten Polens abgegebene Stimme im ländlichen Oberschlesien war sie als Belohnung ausgelobt worden, die eine Kuh für jeden Landwirtschaftsbetrieb. Ob nun gerade deswegen oder aus anderen Gründen, tatsächlich stimmten viele ländlich geprägte Stimmbezirke für Polen, aber insgesamt stand im Abstimmungsgebiet dann am 20. März 1921 doch eine sechzigprozentige Mehrheit für eine weitere Zugehörigkeit Oberschlesiens zur Weimarer Republik, wie das Deutsche Reich neuerdings von manchen genannt wird.

Wieder einmal hatten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs eine demokratische Abstimmung verloren, in der ihre Nachkriegsregelungen auf die Probe gestellt wurden. Zuvor war das schon im südlichen Ostpreußen der Fall gewesen, wo in international kontrollierten Abstimmungen neunzig Prozent für Deutschland stimmten, und in Österreich, wo bei regionalen Abstimmungen ähnliche Ergebnis für den Beitritt zu Deutschland zustande kamen. Es setzte sich später noch im Saarland fort. Man muß über keine prophetischen Gaben für die Annahme verfügen, daß auch Abstimmungen in Danzig, Westpreußen und dem Sudetenland solche Ergebnisse gefunden hätten. Mit demokratischen Abstimmungen ließ sich Deutschland nicht zerlegen.

Nun hatten die Machthaber im neugegründeten Polen solche Abstimmungen in den Grenzgebieten ohnehin für das falsche Mittel gehalten. Sie hatten alles versucht, um sie erst gar nicht zuzulassen und dachten nicht daran, das Ergebnis zu akzeptieren. Gewalt war statt dessen das Mittel der Wahl. Zwei sogenannte „Aufstände“ hatte Oberschlesien schon gesehen, mit denen durch externe polnische Truppen Tatsachen geschaffen werden sollten. Wenige Wochen nach der Wahlniederlage folgte der dritte.

Lloyd George befürwortete deutsches „Notwehrrecht“

Um noch etwas zusätzliche Motivation zu schaffen, wählte man den 3. Mai für den Beginn des Angriffs, Polens Verfassungstag. Gerade wurde er 1921 zum runden einhundertdreißigsten Mal als Erinnerung an die Verfassung vom 3. Mai 1791 gefeiert, und zum fünften Mal, seitdem die deutsch-österreichische Verwaltung des polnischen Generalgouvernements zu diesem Tag im Jahr 1916 erstmals nach Jahrzehnten russischer Unterdrückung öffentliche Feiern zugelassen hatte. Das hatte damals das Klima im Land verbessern sollen und bewirkte in der Tat ein neues Zutrauen der polnischen Öffentlichkeit in das Projekt eines unabhängigen Staates, erstmals nach den ganzen Niederlagen des 19. Jahrhunderts. Man ging in Scharen aus dem Haus, genoß den Frieden und den Freiraum, den die Austreibung der russischen Besatzer durch deutsche Truppen und die Bürokratie der Mittelmächte mitten im Weltkrieg geschaffen hatte. Was die polnisch-deutschen Beziehungen anging, so wurden sie dadurch allerdings nicht besser, 1916 so wenig wie 1921.

Der Blick auf 1791, er erinnerte eigentlich an die polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts und das Ende von Staat und Verfassung nur kurze Zeit später. Dies alles konnte mit Oberschlesien wenig zu tun haben, das schon Jahrhunderte vor diesen Teilungen Teil des deutschen Staatsverbands gewesen war. Aber solche Zuschreibungen galten nichts, in einer Situation polnischer nationaler Aufregung, aus deren Sicht die „Geschichte“ seit ungeheuren Zeiten eine ungerechte Veranstaltung gewesen war, die es jetzt rückgängig zu machen galt.

Und dann gab es da die tatkräftige Unterstützung aus dem westlichen Ausland. Vor Ort in Oberschlesien wurde sie vor allem durch französische Truppen gewährleistet. Im Vorfeld der Volksabstimmung vom März 1921 konnte man denken, Oberschlesien sei längst von Deutschland abgetrennt und selbständig. Mehr als ein Jahr vorher hatte eine alliierte Kommission die dortige Verwaltung übernommen und lauthals eine neue Ära für Frieden und Gerechtigkeit angekündigt. Sie unternahm im weiteren vieles, um einen polnischen Sieg sicherzustellen. Alle Bekanntmachungen der Kommission wurden in polnischer und in deutscher Sprache verkündet, wobei allerdings die polnische Sprache zuerst genannt wurde. Pressefreiheit und Freizügigkeit wurden eingeschränkt, vor allem aber für die deutsche Seite.

Die zur Sicherung der Kommission vorhandenen Truppen traten im Mai 1921 dann auch dem erneuten Aufstand nicht entgegen. Man ließ die Dinge laufen, obwohl dreizehntausend französische und zweitausend italienische Soldaten vor Ort waren. Polen und die polnische Militärdrohung gegen ganz Deutschland wurden schließlich politisch gebraucht, da sollten etwaige Bedenken zurücktreten. Das galt vor allem für die französischen Truppen, während die Italiener vor Ort wenigstens versuchten, ihrem Sicherungsauftrag gegenüber der Bevölkerung nachzukommen und mehrere Dutzend Tote zu beklagen hatten. Insgesamt war das zu wenig, um den polnischen Eroberungsfeldzug aufzuhalten, der bald fast das ganze Abstimmungsgebiet unter Kontrolle hatte.

Aus Berlin kam von der Regierung wenig bis keine Gegenwehr gegen den polnischen Angriff auf immerhin noch juristisch anerkannt deutsches Staatsgebiet, dessen Bevölkerung sich gerade mehrheitlich zu Deutschland bekannt hatte. Einmal mehr verstrich die Chance, das Volk mit einem unmittelbaren offiziellen Appell gegen allliierte Willkür in Stellung zu bringen oder mit den immer noch vorhandenen militärischen Mitteln das eigene Staatsgebiet zu schützen. Das wäre im Mai 1921 keine utopische Möglichkeit mehr gewesen, denn zweieinhalb Jahre nach Kriegsende zeigte die Front der Gegner längst Risse. Niemand anderer als der britische Regierungschef Lloyd George sprach im britischen Parlament davon, in diesem Fall sei in Oberschlesien ein Notwehrrecht des deutschen Volkes gegeben.

So griffig kann man vielleicht nicht davon sprechen, das deutsche Volk habe von selbst zu den Waffen gegriffen. Allerdings machten sich viele freiwillig auf, die Sache selbst zu erledigen, da es nun sonst niemand offiziell tun wollte. Es waren Angehörige der Armee des kaiserlichen Deutschland, die vor wenigen Jahren noch erfolgreich den Rest der Welt lange in Schach gehalten hatte und jetzt aus der Position des irregulären und nach Zahl und Ausrüstung Unterlegenen heraus gegen polnische Verbände agieren mußten. Verstärkt wurden die deutschen Freikorps und der oberschlesische Selbstschutz von vielen Handwerkersburschen und – besonders korporierten – Studenten aus allen Teilen Deutschlands.

Der Erfolg ließ nicht auf sich warten, aber unter diesen Umständen wurde der entscheidende Sieg zum beiderseitigen Mythos „Annaberg“. Der Annaberg, der höchste Punkt eines kleinen Höhenrückens in Oberschlesien südöstlich von Oppeln, ist nur etwa vierhundert Meter hoch. Seine Lage im ansonsten flachen Umland machte ihn dennoch zum strategischen Punkt. Seine Eigenschaft als katholischer religiöser Wallfahrtsort lud ihn zusätzlich symbolisch auf. Am Morgen des 21. Mai 1921 setzten die deutschen Einheiten zum Sturm auf den Annaberg an. Die Polen hatten sich dort mit starken Kräften im Kloster verschanzt, aber sie konnten dem Angriff der deutschen Freiwilligeneinheiten nicht standhalten. Zwei Bataillone des Freikorps Oberland stürmten von zwei Seiten den Anstieg hinauf. Zur Mittagszeit war der Annaberg wieder in deutscher Hand, und vom höchsten Punkt, dem Kirchturm des Klosters, wehte die schwarzweißrote Fahne und an vielen Orten im Deutschen Reich läuteten darauf die Glocken.

Annaberg als Mythos in Deutschland und in Polen

Ihre Niederlage kam für die polnischen Verbände wie für ihre heimlichen alliierten Förderer höchst unerwartet und ungelegen. Wie so oft witterte man in Polen Verrat, finstere deutsche Machenschaften und in jedem Fall Ungerechtigkeit gegenüber den eigenen Ansprüchen. Die Kämpfe in Oberschlesien gingen denn auch noch wochenlang weiter, ohne aber noch einmal eine solche Symbolträchtigkeit zu erreichen. Am 1. Juli riefen die Alliierten den Waffenstillstand aus und teilten Oberschlesien.

Der Annaberg blieb deutsch und wurde ein Wahrzeichen des Widerstands gegen den Versailler Vertrag. Die Nationalsozialisten errichteten dort zusätzlich eine Thingstätte. Nach 1945 sprengte die polnische Verwaltung Teile davon und verklärte den Berg zum Teil des nationalen polnischen Gedenkens. Unmittelbare politische Folgen hatte das zuletzt 1989, als Einheitskanzler Helmut Kohl unter dem Eindruck des Mauerfalls am Annaberg für polnisch-deutsche Versöhnung beten wollte. Das wurde einmal mehr als Versuch der Vereinnahmung polnischen Gebiets interpretiert und schließlich auf Intervention Warschaus unterlassen. So ist denn der Annaberg heute ein anschauliches Bild der beiderseitigen Beziehungen, die im historischen Bereich auf ein gepflegtes Maß an fragwürdigen Sprachregelungen und offenen Geschichtsfälschungen beruhen, über deren Erhalt unter anderem polnische Regierungsstellen in Deutschland wachen. Derweil grasen um den Annaberg die Kühe. Abzustimmen gibt es nichts mehr.