© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

„Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußballgott“
Ende der Bundesligasaison: Vor 20 Jahren entschied sich die Meisterschaft in einer bis dato unbekannten Dramatik zwischen Schalke 04 und Bayern München
Alexander Graf

Die kürzeste Meisterschaft in der Fußballbundesliga dauerte vier Minuten und 38 Sekunden. Was dem FC Schalke 04 vor zwanzig Jahren widerfuhr, gehört noch heute zu den dramatischsten Ereignissen des Wettbewerbs. 

Der Traditionsverein aus dem Ruhrgebiet brauchte am letzten Spieltag an jenem 19. Mai 2001 einen Sieg, und Spitzenreiter Bayern München mußte verlieren, damit der Titel an die Königsblauen gehen würde. Im ausverkauften Schalker Parkstadion sah es zunächst so aus, als wäre die Spannung schnell raus aus dem Spiel. Die Gastgeber taten sich gegen den abstiegsbedrohten Gegner aus Unterhaching schwer und gerieten schon früh in Rückstand. Doch das 0:2 holte Schalke kurz vor dem Pausenpfiff auf. 2:2 zur Halbzeit. Im zweiten Durchgang ließen sich die Schalker auch vom erneuten Rückstand nicht beirren. Schließlich drehten sie das Spiel und siegten nach einer Willensleistung 5:3. 

Schmeichelhafter Titel als „Meister der Herzen“

Aber bei einem Sieg oder Unentschieden der Bayern in Hamburg beim HSV nutzte der Sieg nichts. Doch in der 90. Minute ging dort der HSV in Führung. Euphorie machte sich im Fußballwesten breit. Doch der Schalker Manager Rudi Assauer trat inmitten bereits jubelnder Anhänger auf die Bremse. Der Sportfunktionär wollte noch nicht an die erste Meisterschaft seit 1958 für Schalke glauben. „Wer vorher feiert, feiert meist umsonst“, lautete sein Credo. 

Eine tragische Rolle sollte an diesem Nachmittag der Sportreporter Rolf Fuhrmann vom TV-Sender Premiere spielen. Er gab die Falschinformation weiter, auch in Hamburg sei das Spiel bereits vorbei. Der Jubel brach sich nicht nur im Schalker Stadion, sondern im ganzen Stadtgebiet Bahn. Fans stürmten im Bewußtsein der ersten Meisterschaft nach 43 Jahren den Rasen, Menschen jubelten auf den Straßen. 

Zu diesem Zeitpunkt ahnte tief im siegestrunkenen Westen noch niemand, daß der Ball im Norden noch rollte. Vier Minuten Nachspielzeit. Eine bis heute umstrittene Schiedsrichterentscheidung bescherte dem FC Bayern einen indirekten Freitstoß im HSV-Strafraum. Patrik Andersson trat an und schoß den Ball ins HSV-Tor. Abpfiff. Die Münchner errangen in wortwörtlich letzter Sekunde den Titel. Hunderte Kilometer weiter südlich lief zunächst wenig beachtet die Nachspielzeit auf der Videoleinwand des Stadions. Die jubelnden Schalker glaubten, Wiederholungen zu sehen. Allmählich dämmerte den Zuschauern jedoch, daß sie die letzten Szenen der Nachspielzeit live sahen – inklusive des Bayern-Triumphes. 

Vier Minuten und 38 Sekunden nach dem Abpfiff in Gelsenkirchen war die Meisterschaft beendet. Lähmendes Entsetzen wich grenzenloser Trauer. Die Bilder der weinenden Anhänger und untröstlicher Spieler verbanden sich unlößlich mit der Saison 2000/2001. 

Als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, bemühte Assauer in der Stunde der bitteren Niederlage höhere Mächte: „Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußballgott.“ Eine Woche später gewann Schalke 04 zwar den DFB-Pokal durch einen Sieg über Union Berlin; den Schmerz über die verlorene Meisterschaft konnte das bis heute nicht vergessen machen. In der Berichterstattung erhielt Schalke den schmeichelhaften Titel „Meister der Herzen“. Während die Bayern in den folgenden Jahren zum Seriensieger wurden, waren die Gelsenkirchener nie wieder einem Meistertitel so nah. Fast genau zwanzig Jahre nach diesem Herzschlagfinale muß der FC Schalke 04 kommenden Sonnabend sogar zum vierten Mal in seiner Geschichte den Gang in die Zweite Liga antreten.