© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Regietheater gegen Links
Ingo Langner zeigt, wie man Bertolt Brecht, den Liebling der Dekonstrukteure, dekonstruieren könnte
Artur Abramovych

Laut der aktuellsten Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins handelt es sich bei Bertolt Brecht, weit vor seinen Landsleuten Goethe, Schiller und Kleist, um den meistgespielten deutschen Dramatiker auf unseren Bühnen. Von den Autoren der Weltliteratur schlägt ihn allein Shakespeare. Ein nach Brecht benannter Preis wurde vor einem Vierteljahrhundert ins Leben gerufen und hat sich zu einem der bedeutendsten deutschen Literaturpreise entwickelt; Brechts Blick auf den Faschismus beherrscht nach wie vor das deutsche Feuilleton, und Stücke wie die „Dreigroschenoper“ oder die „Mutter Courage“ werden aktualisiert und als Beitrag zum „Kampf gegen Rechts“ inszeniert. 

Es wäre also nicht übertrieben, festzustellen, daß Brecht (im Gegensatz zu bürgerlichen Zeitgenossen wie Thomas Mann) Konjunktur hat und zum anerkanntesten deutschen Autor seiner Epoche zu avancieren droht. Und da sich in der sonst durchweg dekonstuktionsfreudigen Kulturwelt in bezug auf die eigene Ikone (sofern man von Frank Castorfs durch die Brecht-Erben verbotenem Schabernack bei seiner Münchner Baal-Inszenierung von 2015 absieht) keinerlei Dekonstruktionslust regt, sei hier auf eine der wenigen Ausnahmen hingewiesen, nämlich Ingo Langners Theaterstück „Mikado“, das vergangenen Herbst im katholischen Patrimonium Verlag erschienen ist.

Mit seinem ersten Drama ist Langner, der seit vergangenem Jahr in der Redaktion des Magazins Cato tätig ist, zu seinem eigentlichen Metier zurückgekehrt. Denn noch bevor der umtriebige Kulturmensch Dokumentarfilmer, Ausstellungskurator, Romanautor und Publizist wurde, hatte er Theaterwissenschaften studiert und an etlichen deutschen Schauspielhäusern als Regisseur gearbeitet. Auch die Person Brechts tauchte in Langners Werk bereits verschiedentlich auf, etwa in seinem Gesprächsband mit Walter Kardinal Brandmüller, dem Chefhistoriker des Vatikan, worin die beiden Katholiken mit den sich um Galileo Galilei rankenden und mitunter von Brecht forcierten Mythen aufräumten.

Zudem spielte Brecht eine prominente Rolle auch in Langners zweitem Krimi, „Letzte Ausfahrt Stockholm“ (2019), der von einem designierten, Brecht-bewegten Literaturnobelpreisträger handelt, Bernhard Bunge (nomen est omen, denn ein Schüler Brechts trug diesen Nachnamen), welcher sich als Plagiator entpuppt: der Roman, für den er in Stockholm ausgezeichnet werden soll und der den Titel eines Brecht-Gedichts trägt stammt tatsächlich von Bunges in eine Nervenklinik abgeschobenen Gattin, was vor der Öffentlichkeit unter Anwendung von Mord und Totschlag geheimgehalten werden muß. Der Bezug zu Brecht, der seine sogenannten Mitarbeiterinnen nicht nur sexuell schamlos auszunützen pflegte, liegt hier auf der Hand.

In Langners „Mikado“ ist der Brecht-Bezug gar noch eindeutiger: Carolin Gründgens, eine junge Regisseurin, will hier an einem typischen steuerfinanzierten Theater der deutschen Provinz Brechts „Leben des Galilei“ so inszenieren, wie sie den Text versteht: als klandestine Rechtfertigung Brechts für sein Schweigen während der Moskauer Schauprozesse Stalins; der Papst als Generalsekretär und Galilei als Brecht also.

Parodistische Parallelen zu Brecht-Stücken

In der Theaterwelt hat Gründgens es allerdings erwartungsgemäß nicht leicht; zunächst hat sie sich gegen einen kommunistischen Alt-68er und die von ihm kontaktierte Brecht-Erbin durchzusetzen, anschließend gegen die opportunistische Intendantin, die sich zwar zur Dekonstruktion Brechts überreden läßt, den Fokus aber lieber auf des Meisters Umgang mit Frauen legen würde; dies sei doch „der ideale Stoff für eine MeToo-Debatte“. Am Ende scheint sich Gründgens mit größter Mühe und allein aufgrund der Ruhmsucht der ehrgeizigen, Schlagzeilen witternden Intendantin durchgesetzt zu haben. Daß die Inszenierung am Ende durch einen deus ex machina doch noch scheitern muß, versteht sich von selbst.

Trotz des tragischen Ausgangs entbehrt diese tragicocomoedia keineswegs der Komik, wenn etwa in Zwischenspielen der in der Hölle schmorende und von einer Handpuppe darzustellende Brecht Besuch aus dem Himmel bekommt, nämlich von Galilei, oder wenn in der Haupthandlung Personen aus ihrer Rolle schlüpfen und an der Bühnenrampe Monologe halten. Derartige Parallelen zu Brecht-Stücken sind allerdings klar als parodistisch gekennzeichnet, denn in diesen Monologen etwa machen sich die ihrer Rolle entfremdeten Personen lustig über das Brechtsche Epische Theater, parodieren sich also gleichsam selbst. Zudem handelt es sich bei „Mikado“ um ein kammerspielartiges Stück, das, anders als sämtliche Brecht-Stücke (und sogar seine agitatorischen Einakter wie „Frau Carrar“), mit nur sechs dramatis personae auskommt; in den meisten Szenen sind nicht mehr als zwei oder drei Personen auf der Bühne. Es ist ein für heutige Verhältnisse höchst klassisches Stück.

Der größte Anteil an Komik speist sich allerdings nicht aus den parodistischen Elementen, sondern aus Langners Darstellung des Theatermilieus. Es klagen etwa zwei Lesben, während sie das titelgebende Mikado spielen, über einen Kollegen, der keine Binnen-Is benützt; und den kommunistischen Dramaturgen charakterisiert Langner letztgültig mit wenigen Pinselstrichen, etwa der ihm in den Mund gelegten Bemerkung: „Dialektik ist immer gut.“ Dieser Hang Langners zur Karikatur bei der Beschreibung des Theatermilieus hindert ihn allerdings nicht daran, authentisch zu bleiben, wie vornehmlich seine lakonischen, dynamischen Dialoge zeigen; die Personen reden aneinander vorbei, ganz wie bei Dramatikern der klassischen Moderne, etwa Tschechow und unter den neueren Dramatikern Botho Strauß.

Das letzte Wort über Brecht behält bei Langner Galilei höchstselbst (oder vielmehr die ihn darstellende Handpuppe im letzten Zwischenspiel): Es ist auch hier Mephisto, der Brecht für gerichtet erklärt; doch anders als am Schluß von Faust I erklingt keinerlei Stimme von oben, die dem Beelzebub widerspricht, sondern stattdessen nur Galileis lapidare Bemerkung: „Manche hätten ihn gern gerettet.“ Im Jenseits haben diese „Manchen“ nichts zu melden, doch beherrschen sie im Diesseits nach wie vor die deutsche Bühne; und daher stehen die Aussichten auf eine Inszenierung von Langners „Mikado“, zumindest vorerst, leider schlecht.

Ingo Langner: Mikado. Eine Tragikomödie zwischen Himmel und Hölle. Patrimonium Verlag, Aachen 2020, broschiert, 98 Seiten, 9,80 Euro

Foto: Dramatiker Bertolt Brecht: Sein Blick auf den Faschismus beherrscht nach wie vor das deutsche Feuilleton