© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Ideale und Werte vermitteln
In Großbritannien hat das Kadettenwesen eine lange Tradition und existiert immer noch
Boris T. Kaiser

Wenn ein Volk durch schwere Zeiten geht, verfallen die einen in Lethargie oder Fatalismus, andere versuchen die Realität so lange zu verdrängen, bis sie unübersehbar wird. Und wieder andere besinnen sich auf die alten Tugenden, von denen sie glauben, daß sie ihrem Land einst eine bessere Zeit beschert und der Abfall von ihnen die schlechte überhaupt erst herbeigeführt habe. 

1859 befand sich das britische Königreich in einer tiefen Krise. Während in der indischen Kolonie Aufstände tobten, hatten sich die Spannungen mit Frankreich so sehr zugespitzt, daß eine Invasion durch die Franzosen drohte. Einem derartigen Angriff hätte das britische Militär damals wenig entgegenzusetzen gehabt. Die Streitkräfte benötigten daher dringend eine Möglichkeit, die eigenen Truppen im Kriegsfall schnell mit fähigen Männern anwachsen lassen zu können. So waren schon bald die „Volunteers“, die Vorläufer der Territorial Army, der Freiwilligen Reserve der British Army, geboren. In einigen Einheiten der Volunteers entstanden zudem militärische Jugendorganisationen, die sogenannten „Cadets“.

Bis heute gibt es Cadets-Programme als Jugendorganisation und an vielen Privatschulen im Vereinigten Königreich als Zusatzangebot. Die Kadetten tragen Camouflage-Uniformen. Ihre „Detachments“ der jeweiligen Landkreis-Kompanien sind einem Armee-Regiment zugeteilt. Inzwischen dürfen auch junge Frauen mitmachen; 30 Prozent der insgesamt 37.000 Cadets sind mittlerweile weiblich. In Werbevideos sieht man die Jugendlichen unter anderem im Gleichschritt marschieren und an Waldcamps und Segelübungen teilnehmen. Zudem bekommen sie den Umgang mit Schußwaffen und Infanterietaktiken gelehrt, was hierzulande das Herzinfarktrisiko bei linksgrünen Pädagogen erhöhen dürfte. Doch in Interviews auf der Insel schwärmen die Jungen und Mädchen von Teamgeist und Selbstdisziplin.

Bereits im Jahr 1860 fand die erste von Queen Victoria inspizierte Parade einer Cadet-Truppe statt. Acht Schulen mit solchen Einheiten gab es da bereits. Ein weiterer Auftrieb für das Konzept der Charakterschmieden, die dem britischen Nachwuchs Werte wie Disziplin und Ordnung nahebringen sollten, kam ausgerechnet durch eine Frau.

Kurz vor dem Aus gerettet

Die Sozialreformerin Octavia Hill, eine der führenden Kräfte bei der Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus, gründete in Southwark das erste unabhängige Cadet-Bataillon. Ziel war es, eine Organisation zu schaffen, die die Jungs des Landes zum Guten beeinflußt. Mitglied werden durften Knaben, „who had passed the age of make-believe“, also etwa ab dem 10. Lebensjahr – heute ist ein Beitritt ab 12 Jahren möglich.

„Wenn dem jungen Burschen solche Ideale nahegebracht werden, bevor er an eine Bande Faulenzer gerät, beeinflußt das möglicherweise sein ganzes leben“, so das Credo der engagierten Philanthropin. Weitere Einheiten wurden von dem Sozialarbeitspionier Adam Grey gegründet, und auch in den Kolonien gab es bald die ersten Kadetten.

1908 wurden die Einheiten erst offiziell unter die Führung der neugegründeten Territorial Reserve Associations gestellt, dann aber im Zuge des Ersten Weltkriegs dem Kriegsbüro unterstellt und entsprechend gefördert. Nach dem Krieg stand die Organisation aufgrund von Einsparmaßnahmen schon kurz vor dem Aus. Worauf das Verhältnis zwischen den Jugendeinheiten und dem Verteidigungsministerium stark abkühlte. Die militärische Unterstützung für die Cadets wurde in dieser Zeit zurückgezogen, und sogar das Tragen von Militär-Insignien wurde ihnen verboten.

Rettung versprach vor allem die auf Initiative des britischen Feldmarschalls Lord Allenby gegründete British National Cadet Association (BNCA). Im Zuge des aufkommenden Zweiten Weltkriegs fielen die Zuständigkeiten für die Cadets noch mehrfach zwischen den britischen Behörden hin und her. 1948 lösten sich die rein schulischen Einheiten von der inzwischen in Army Cadet Force (ACF) umbenannten Organisation und heißen seitdem Combined Cadet Force (CCF). ACF und CCF wurden aber weiterhin vom Verteidigungsministerium finanziert. Diese Gliederung besteht bis heute für Kadetteneinrichtungen in Großbritannien, Kanada und Australien. Zwar sind die Programme keine Voraussetzung für den Militärdienst und dienen nicht (mehr) zur Rekrutierung künftiger Soldaten, eines aber ist geblieben: Das Ziel, den Jungen die Vorteile von Verantwortungsfähigkeit, Eigenständigkeit, Einfallsreichtum, Ausdauer und Beharrlichkeit aufzuzeigen und sie so zu im Leben in jeder Hinsicht erfolgreicheren Menschen und Staatsbürgern zu formen. Diese Erziehung zum Besseren dürfte wohl auch zu den bedeutendsten Teilen des Erbes von Prinz Philip, dem verstorbenen Prinzgemahl der Queen, gehören, der 1956 mit der Stiftung des Duke of Edinburgh’s Award ein Programm gegen die „Mängel der Jugend“ ins Leben rief.