© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/21 / 21. Mai 2021

Der Flaneur
Er mußte sich entscheiden
Reiner Brinkmann

Jeden Tag führt mich mein Weg von der Arbeit nach Hause an der Mansardenwohnung des älteren Herrn vorbei. Viele denken, er sei Witwer? Nein, ist er nicht. Er lebt alleine, ist geschieden. 

Wir unterhalten uns manchmal kurz über den Zaun hinweg. „Meine Frau?“, vertraute er mir einmal an, „nun, ich mußte mich entscheiden. Die Stimmung im Hause änderte sich mit den Jahren. Die Worte wurden kälter, ihre Sätze wurden zu Vorhaltungen, immer gleiche Tiraden, dann Lügen und zuletzt Betrug. Da habe ich sie schließlich vor die Tür gesetzt. Ab dann ging es mir besser.“ 

Viele meinen, er sei ein eigenwilliger Kauz, weil er seit einiger Zeit mehr für sich ist. Meistens sitzt er nur noch vor dem Fernseher, sieht politische Talk-Shows, Nachrichtensendungen, alles, was so läuft zur Lage der Nation. Es ist seine Hauptbeschäftigung. 

Die Treffen am Zaun sind sehr selten geworden. Man sieht den alten Mann kaum noch draußen. Wenn ich abends an dem Haus vorbeigehe, sehe ich schon von weitem das flackernde Licht des Bildschirms. Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob es mir auffallen würde, wenn plötzlich etwas mit ihm passieren sollte. Wie lange der Fernseher wohl unbeachtet weiterflackern würde.

Da standen wir nun auf der Straße, nachdem wir den Fernseher rausgetragen hatten.

Doch gestern stand er in der Tür, und wie ich grüße und schon fast vorbei bin, winkt er mich zu sich heran. Ob ich kurz mit anfassen könne, fragt er mich. Bis in den Flur hatte er ihn selbst schleppen können, doch für das letzte Stück an die Straße, wo die Sperrgutabfuhr ihn morgen abholen würde, bat er mich um Hilfe. „Na, selbstverständlich“, sagte ich bereitwillig, „kein Problem“. Es dauerte nur einen kleinen Moment, war keine Mühe. 

Da standen wir nun vor dem Haus auf der Straße, nachdem wir den Fernseher rausgetragen und abgesetzt hatten. Der alte Herr lächelt mich an, amüsiert über die unausgesprochene Frage in meinem Gesicht. „Ich mußte mich entscheiden. Immer die gleichen Worte, immer die gleichen Tiraden, dann Lügen und zuletzt Betrug. Jetzt geht es mir besser.“