© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Gefährliche Prognosen
Ob Klimawandel oder Virus: Wir brauchen eine pluralistische Wissenschaftsnutzung durch die Politik
Johannes Eisleben

Zwei Themen bewegen derzeit viele Menschen in den westlichen Massendemokratien: Covid und Klimawandel. Wie wichtig diese Themen sind, läßt sich auch daran ablesen, daß sich unsere drei Staatsgewalten und die Presse permanent mit diesen Themen auseinandersetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Wochen Eilanträge gegen die Covid-Maßnahmen zurückgewiesen und entschieden, daß Grundrechtseinschränkungen im Rahmen des sogenannten Klimaschutzes möglich werden könnten. Bei dieser Entscheidung hat es sich auf Ergebnisse und Aussagen von Wissenschaftlern berufen, was Exekutive und Legislative auch tun.

Gibt es daran etwas zu beanstanden? Beruht nicht unsere ganze technische Zivilisation auf wissenschaftlicher Forschung und deren technischer Anwendung? Sicherlich. Doch müssen Politiker die Qualität wissenschaftlicher Ergebnisse würdigen und bei ihrer Anwendung eine Güterabwägung durchführen. Die Politik verrennt sich und verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie nur einseitige wissenschaftliche Meinungen berücksichtigt.

Wie ist es um die Qualität der Wissenschaft bei den hochpolitischen Fragen Klimawandel und Covid bestellt? In beiden Fällen sind Wissenschaftler, egal welcher Disziplin, nicht in der Lage, exakte quantitative Modelle zu erstellen. Sie können nicht genau verstehen, was geschieht, ihre Berechnungen sind sehr ungenau. Das liegt daran, daß es sich bei beiden Feldern, Weltklima und virale Infektion, um Systeme handelt, die sich mathematisch nicht exakt modellieren lassen. Bei Phänomenen wie der Ballistik oder der Erzeugung mechanischer aus elektrischer Leistung im Elektromotor können wir quantitative, exakte Modelle aufstellen und mit deren Hilfe genaue Zahlen berechnen. So kann die Flugbahn einer Rakete genau berechnet werden. Oder es kann berechnet werden, wie lange bei einer bestimmten Leistung eine Batterie ein E-Auto mit Strom versorgen kann. Bei diesen Beispielen dominiert eine physikalische Fundamentalkraft, die das Geschehen bestimmt, hier haben wir es mit wenigen Variablen zu tun, wir haben feste Randbedingungen, und die Art der Elemente und ihrer Wechselwirkungen sind immer gleich.

So ist es beim Klima und Covid nicht. Dort kennen wir die Systeme nur ungefähr. Wir wissen nicht genau, wie die Erde und ihre Bestandteile wie Wasser, Boden, Atmosphäre und die klima­relevante Vegetation mit der Sonneneinstrahlung interagieren und wie sich der menschliche Kohlendioxideintrag in dieses System genau auswirkt. Denn das System enthält unzählige Elemente, die aufeinander einwirken, und wir können deren Zusammenspiel nur sehr grob verstehen. Daher wissen wir zwar, daß der anthropogene Ausstoß von Kohlendioxid zu dem Klimawandel, den wir beobachten, beiträgt, aber nicht genau, in welchem Ausmaß.

So ist es auch bei Sars-CoV-2. Das Virus breitet sich über die Atemluft aus, wir können es durch Isolationsmaßnahmen dauerhaft nicht aufhalten. Zwischen dem Virus und seinen menschlichen Wirten gibt es zahlreiche Wechselwirkungen, die wir nicht oder nur sehr schlecht verstehen. Wir wissen, daß das Virus ständig mutiert, um sich in der Population halten zu können. Mit Sicherheit wissen wir aber nicht genug über das System Virus-Mensch, um im voraus berechnen zu können, wie sich das Virus genau ausbreitet und welche Maßnahmen sich wie darauf auswirken. Sicher ist nur, daß am Virus nur ein sehr kleiner Teil der Infizierten stirbt – laut WHO sterben an einer Sars-CoV-2-Infektion etwa 0,15 Prozent der Menschen über 70 Jahre, während an einem akuten Herzinfarkt in dieser Altersgruppe auch mit Notfallbehandlung etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten sterben – und daß es nie verschwinden wird, egal wie hoch der Anteil der Geimpften an der Bevölkerung ist: Wir haben die Pocken durch Impfung ausgerottet, die Kinderlähmung ist durch die seit den 1950er Jahren laufende weltweite Impfkampagne sehr stark zurückgedrängt worden. Aber virale Erreger grippaler Infekte lassen sich durch Impfung nicht ausrotten, das wissen wir sicher: theoretisch, aber auch praktisch anhand der Influenza, gegen die seit 50 Jahren geimpft wird, ohne daß man je nachweisen konnte, daß dadurch Todesfälle verhindert wurden, geschweige denn, daß einer der zahlreichen Stämme ausgerottet worden wäre.

Da es in der Klimaforschung und der Virusmedizin, an der jeweils viele Disziplinen beteiligt sind, keine exakten quantitativen Modelle geben kann, müssen Politiker in diesen Bereichen Ratgeber aller beteiligten Teildisziplinen anhören: bei Covid Virologen, Pneumologen, Intensivmediziner, Epidemiologen, aber auch Zellbiologen oder Biochemiker. Sie müssen sich dabei auch von Fachleuten beraten lassen, die einander widersprechende Meinungen vertreten. Wir brauchen eine pluralistische Wissenschaftsnutzung durch die Politik. Dies ist bei Sars-CoV-2 nicht geschehen, und in der Klimamodellierung geschieht es auch nicht.

Politiker müssen vor allem aber auch die Werte und Güter, die von den Empfehlungen der Wissenschaftler tangiert werden, gegen andere Güter abwägen. Das ist keine wissenschaftliche Aufgabe, sondern eine politische. So muß beispielsweise bei Covid das Wohl der Kinder und Jugendlichen und das Funktionieren der Wirtschaft gegen das unvermeidliche Risiko für alte Menschen abgewogen werden, beim Klimaschutz das Ziel von Wohlstand auch für die unteren Einkommensschichten gegenüber der fraglichen Realisierung von Klimazielen.

Wenn Politiker dabei versagen und nur einseitig auf bestimmte Güter setzen, entsteht erst Politikverdrossenheit, dann politischer Unmut und schließlich ein Legitimationsverlust des Staates, gefolgt von gesellschaftlicher Instabilität. Wir sind derzeit zwischen der ersten und zweiten Stufe und sollten daher rasch zu einer pluralistischen Nutzung der Wissenschaft und einer differenzierten Abwägung zwischen den Gütern zurückkehren.