© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

„Grundsätzlich skandalös“
Die Politik verweigert, die Bildungskrise zu lösen. Diesen Eindruck muß bekommen, wer die neue Streitschrift „Die zehn Todsünden der Schulpolitik“ Heinz-Peter Meidingers, Gymnasialrektor und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, liest
Moritz Schwarz

Herr Meidinger, Sie sagen, wäre unser Schulsystem besser vorbereitet gewesen, wären die Folgen des Lockdown dort geringer. Dann geht also nur ein Teil der derzeitigen Schulkrise auf das Konto von Corona? 

Heinz-Peter Meidinger: Niemand in der Politik und Gesellschaft war auf die Pandemie gut vorbereitet, insbesondere im Bildungssystem. Viele Defizite gab es schon vorher, Corona hat sie quasi nur verstärkt, besonders sichtbar gemacht, wie Lehrermangel, Unterfinanzierung, die Handlungsunfähigkeit der Kultusministerkonferenz. Besonders hat mich geärgert, daß auch während der Pandemie Bildung und Schulen erst nicht, später nur nachrangig von der Politik wahrgenommen und unterstützt wurden.

Inwiefern nachrangig?

Meidinger: Monatelang hat man ein Hilfsprogramm nach dem anderen für die Wirtschaft verabschiedet, für bessere Ausstattung von Schulen, mehr Gesundheitsschutz, Unterstützung von Schülern in der Pandemie aber zunächst nichts gemacht. Da liegt der Verdacht einer großen Differenz nahe, zwischen der politischen Praxis und den Sonntagsreden, in denen Bildung stets großgeschrieben wird. Die Schulen sind oft deshalb einigermaßen durch die Pandemie gekommen, weil sich die Betroffenen vor Ort, vor allem die Schulleitungen, für paßgenaue Lösungen enorm engagiert haben – nicht, weil die Politik die Schulen in der Krise gut unterstützt hat.

Welche Konsequenzen müßte das haben?

Meidinger: Schlimm wäre, zöge die Politik, ob der nun noch offenkundigeren Defizite keine Konsequenzen. Wir haben ja nicht nur ein Unterfinanzierungs-, sondern auch ein Qualitätsproblem. Daß die Leistungen der Schüler in den Bundesländern schon Ende der Grundschule um zwei Lernjahre auseinanderklaffen, ist grundsätzlich skandalös. Das wird noch dramatischer, kommen während einer Pandemie weitere Bildungsverluste dazu. Ich bin zwar Anhänger des Bildungsföderalismus, doch müssen wir nach Corona erneut versuchen, zu verhindern, daß unter dem verfassungsrechtlichen Schutzmantel des Föderalismus einzelne Länder ihre Schulen herunterwirtschaften. 

Was schlagen Sie vor? 

Meidinger: Ich plädiere für einen Bildungsstaatsvertrag, der viel stärker qualitative Mindeststandards für Lehrpläne, Lehrerausbildung und Abschlußprüfungen verankert. Da wird zu vieles in der Kultusministerkonferenz weichgespült. 

Müssen auch politische Köpfe rollen? 

Meidinger: Auch wenn sich kaum ein für Bildung zuständiges Landeskabinettsmitglied während Corona mit Ruhm bekleckert hat, muß man fair bleiben: Die Marschrichtung gaben die Ministerpräsidenten vor und haben dabei nicht selten ihre Schulministerien demonstrativ übergangen. Manchmal wundert mich, wie brav und klaglos die das alle hingenommen haben. An Rücktritt dachte und denkt da offensichtlich niemand. 

Also wären doch welche fällig?

Meidinger: Was wir brauchen, ist ein höherer Stellenwert der Bildung in der Politik – ob das mit den alten oder neuen Politikern erfolgt, ist mir da egal.

Fachleute schlagen wegen der Lage der Schüler im Lockdown Alarm. Was muß jetzt konkret getan werden, den Schaden der Schulkrise möglichst klein zu halten?  

Meidinger: Zunächst muß man Abschied von der Vorstellung nehmen, der Staat könne mit Maßnahmen und zusätzlichem Geld die Bildungsverluste und negativen sozialen Folgen locker wegkompensieren. Bildung funktioniert nicht so, oben einfach Geld und Unterstützungsprogramme hineinzuschütten und alles ist wieder gut. Bildungsaneignung ist ein aktiver Prozeß, der mehrere Voraussetzungen braucht: gut ausgestattete Schulen, genügend Lehrkräfte, klare Orientierung an Qualität und Leistungsstandards sowie Anstrengungsbereitschaft seitens der Lernenden und hoher Stellenwert der Bildung im gesellschaftlichen Bewußtsein. Daher sollte man stets mißtrauisch sein, wenn Politik im Zusammenhang mit Schule große Ankündigungen macht – die sie allein gar nicht erfüllen kann. Klar ist, wir brauchen ein Nachholprogramm mit zusätzlichen Fördermaßnahmen. In der Pandemie sind zwischen 350 und 900 Präsenzstunden ausgefallen. Zwar hat mancher Distanzunterricht gut geklappt, aber ein Teil der Kinder wurde kaum erreicht. Klar geworden ist, wie wichtig persönlicher Kontakt, Schule als sozialer Lernort ist. Das kann die beste Digitalisierung nicht ausgleichen. 

Was muß die Bundesregierung nun tun?

Meidinger: Obwohl für Schule eigentlich nicht zuständig, hat sie ein Aufholprogramm vorgestellt, das sich an das Viertel der Kinder mit besonders großem Lerndefizit richtet. Doch müßte man größer ansetzen: nicht nur dieses Viertel, eigentlich haben alle Verluste erlitten – die übrigens weit über Wissen hinausreichen, ich denke etwa an musische Bildung, Studienfahrten, Schüleraustausch etc. Eigentlich bräuchten wir ein umfassendes Bildungsaktivierungskonzept, nicht bloß ein Lernrückstand-Aufholprogramm. Angesichts von über zehn Millionen Schülern ist die „Lernmilliarde“ des Bundes relativ mickrig, das sind ja nicht einmal hundert Euro pro Schüler. Und viele Fragen sind offen: Wie soll das organisiert werden? Wie sicherstellen, daß jene mit den größten Lücken diese wohl nachmittags, wochenends und in den Ferien plazierten Zusatzangebote wahrnehmen? Und die Kernfrage: Woher kommt angesichts des Lehrermangels das zusätzliche Personal? Interessant ist, daß die Bundesländer, obwohl allein für Schule zuständig, derzeit nicht ansatzweise so viel Geld in die Hand nehmen wie der Bund. Auch so kann man den Bildungsföderalismus schleichend aushöhlen und sich davon verabschieden.

Sie weisen darauf hin, daß Bildungsökonomen und OECD warnen, wegen Corona drohten unseren Kindern einmal Lebenseinkommensverluste von drei Prozent. 

Meidinger: Ja, aber mit solchen Durchschnittszahlen erfaßt man das Problem nicht ansatzweise, sie offenbaren einen rein funktionalistischen, verkürzten Bildungsbegriff. Auch sagen sie für den Einzelnen wenig aus, denn wer Lücken nicht schließen kann, erreicht vielleicht den angestrebten Abschluß nicht. Dann geht es sogar um Lebenseinkommensverluste, die viel höher sind, aber auch um unerfüllte Lebensentwürfe, fehlende Zukunftschancen und Frustration. Ein Zukunftsszenario möchte ich nicht erleben: Das Nachholförderprogramm wird mangels genügender Finanzen und inhaltlicher Konzeptstärke ein Flop – und damit sich das nicht in massiv steigender Schulabbrecherquote und schlechten Ergebnissen bei Abschlußprüfungen auswirkt, was den Landesregierungen auf die Füße fiele, senkt die Politik dauerhaft die Leistungsanforderungen an Schulen ab! Damit erwiese man unseren Kindern und Jugendlichen einen Bärendienst. 

In Ihrem neuen Büchlein listen Sie jenseits von Corona „Zehn Todsünden der Schulpolitik“ auf. Welches sind die schlimmsten? 

Meidinger: Größtes Problem bei der Konzeption der Streitschrift war, daß ich locker über zwanzig solcher Todsünden fand. Als Todsünden in der Politik bezeichne ich übrigens nicht isolierte Fehlleistungen und Versäumnisse, sondern verfestigte Grundhaltungen, die immer wieder zu Fehlern führen. Soll ich die herausgreifen, die besonders viel Schaden angerichtet haben, dann: Schulpolitik, die von Ideologien bestimmt wird, Bildungspolitik als Experimentierfeld unausgereifter Reformen sowie Quote statt Qualität, also die Vernachlässigung des Leistungsprinzips. Grundübel der ersten, also der ideologiebestimmten Schulpolitik ist, daß sie sich nicht an Empirie orientiert, sondern an ideologischen Visionen und die Schulen dafür instrumentalisiert. Damit dient Schulpolitik der Durchsetzung gesellschaftlicher Ziele. Abgesehen davon, daß man dafür meist gar kein Mandat der Wähler hat, scheitert solche Politik meist in der Praxis. Hochzeit waren hier die siebziger, achtziger Jahre, etwa mit dem Versuch, das gegliederte Schulwesen durch Gesamtschulen zu ersetzen oder die Hessischen Rahmenrichtlinien. Während die SPD nach dem Scheitern der Gesamtschule vorsichtiger und sachorientierter wurde, lebte die ideologiefixierte Bildungspolitik nach 2000 interessanterweise bei den Grünen wieder auf, die in Hamburg und NRW einige Jahre das Schulministerium leiteten. Zwar scheiterten ihre Ministerinnen, dennoch fügte die ideologieverrannte Schulpolitik der Qualität des Bildungswesens und damit unseren Kindern viel Schaden zu.

Was ist mit der zweiten der drei schlimmsten Todsünden, „Bildungspolitik als Experimentierfeld unausgereifter Reformen“? 

Meidinger: Es fällt enorm schwer, erfolgreiche Konzepte hierfür zu nennen, verfehlte fallen einem dafür um so mehr ein, etwa: Rechtschreibreform, Schulzeitverkürzung oder Schreiben nach Gehör. Alle wurden ohne Erprobung, begleitende Evaluation und Einbeziehung der Betroffenen durchgesetzt. Weiter die Abschaffung der Hauptschule, wobei man den Eindruck erweckte, so auch den Hauptschüler abschaffen zu können. Mehr Bildungsgerechtigkeit ist nicht entstanden und auch keine bessere Berufsvorbereitung dieser Jugendlichen. Verstärkt wurde die negative Wirkung dadurch, daß Schulpolitik, als eine der wenigen verbliebenen Kernkompetenzen der Länder, zum parteipolitischen Kampfplatz wurde und jeder Regierungswechsel zu neuen Experimenten führte.

Als „besonders tödliche Form“ der schulpolitischen Todsünden bezeichnen Sie die „Orientierung an Quoten statt an Qualität“. 

Meidinger: Deutlich zeigt sich dies in der Fixierung an möglichst hohen Abiturquoten – bei linken und bürgerlichen Parteien. In der SPD herrschte die Auffassung vor, mehr Chancengleichheit lasse sich in erster Linie erzielen, indem möglichst viele Arbeiterkinder Abitur machen. Und Union und FDP ließen sich von Organisationen wie der OECD beeinflussen, die behaupteten, Deutschland werde ökonomisch abgehängt, steige die Abiturquote nicht massiv. Auch ich will, daß für jedes Kind, das entsprechende Begabung, Willen und Leistungsbereitschaft zeigt, das Abitur möglich ist. Wichtig ist aber, daß Studienberechtigung und Studienbefähigung nicht auseinanderklaffen und im Gegenzug die hochwertige berufliche Bildung nicht zerstört wird. Deutschland wurde viele Jahre um seine duale Ausbildung und niedrige Jugendarbeitslosigkeit beneidet. Nun entwickeln sich Bildungs- und Beschäftigungssystem auch bei uns auseinander. Man muß kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß eine große Belastung für das künftige Wirtschaftswachstum der Mangel an Facharbeitern und Handwerkern sein wird.

Am häufigsten findet sich unter ihren Todsünden allerdings schlechte Verwaltung, Stichworte: Reformstau, Finanzierung, Bildungsföderalismus, Lehrerversorgung.  

Meidinger: Ich glaube nicht, daß der größte Schwachpunkt der Schulpolitik das Versagen der Verwaltung ist. Jenseits der beschriebenen Todsünden ist das, daß Schulpolitik zu kurzfristig angelegt ist, keinen langen Atem hat. Sowie daß sich die Politik seit Jahrzehnten um die Lösung der offenkundigen Schwachstellen herumdrückt, wie die riesigen Leistungsunterschiede zwischen den Ländern, die mangelnde Vergleichbarkeit der Abschlüsse, der ständige Wechsel von Lehrermangel und Lehrerarbeitslosigkeit, die mangelnde Integration der Kinder aus Zuwandererfamilien. Bei allen Unterschieden in der Parteipolitik: Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß ein breiter gesellschaftlicher Konsens für eine Bildungspolitik, die Fordern und Fördern vereint, möglich ist. Dazu müßten manche Parteien aber über ihren Schatten springen.

Laut Umfragen zählt Bildungspolitik häufig zu den für die Bürger wichtigsten Themen bei Landtagswahlen. Wenn die Aufmerksamkeit dafür so groß ist, warum „liefern“ die Parteien dann nicht längst? 

Meidinger: An Bildungsprogrammen von Parteien im Wahlkampf fällt oft auf: Einerseits werden große, aber oft unbestimmte, blumige Versprechen gemacht, andererseits werden konkrete Antworten auf bestehende Herausforderungen meist vermieden. Etwa wird versprochen, alle Kinder mehr zu fördern, so daß soziale Herkunft für den Bildungsabschluß keine Rolle mehr spielen soll. Gleichzeitig macht man aber meist keine Aussage, wie man Unterrichtsausfall und Lehrermangel möglichst schnell beseitigen will. Folge: Einerseits sind die Versprechungen so umfassend, daß sie gar nicht erfüllt werden können, andererseits drückt man sich vor konkreten Ankündigungen. Beides führt zu Enttäuschung, weil nichts vorangeht. Außerdem: Schulpolitik spielt im Wahlkampf zwar eine Rolle, wird aber häufig von anderen Themen, aktuell Corona und der Frage, wie es mit der Wirtschaft weitergeht, überlagert. 

Die von Ihnen kritisierte „ideologiebestimmte Schulpolitik“ stammt ja ausschließlich von links. Was steckt Ihrer Ansicht nach eigentlich dahinter?

Meidinger: Abstand zu ideologischer Schulpolitik zu wahren heißt nicht, keine klaren Ziele und Vorstellungen von einem guten Schulsystem zu pflegen. Jeder Bildungspolitiker, jede Lehrkraft sollte schon so etwas wie eine Vision davon haben, wie Schule das Leistungs- und Begabungspotential unserer Kinder bestmöglich fördert. Auch spreche ich manchen ideologieverhafteten Bildungspolitikern nicht die gute Absicht ab. Das entschuldigt aber nicht, Kinder zu Versuchskaninchen einer falschen Politik zu machen. Dazu kommt der irrationale Glaube, daß man mit Strukturveränderungen Menschen ändern kann. Widersprechen würde ich Ihrer Behauptung, ideologiebestimmte Schulpolitik gäbe es nur links. Zwar fallen mir dazu die meisten Beispiele ein, aber sieht man sich den verhängnisvollen Einfluß des Neoliberalismus auf die Schulpolitik an, waren Union und FDP daran kräftig beteiligt. Diese Verkürzung des Bildungsbegriffs und der Schule auf ihre Funktion für die Wirtschaft, diese Vorstellung von Schule als Unternehmen ist ebenfalls eine Form der Ideologie und der Instrumentalisierung von Bildung. 






Heinz-Peter Meidinger, ist seit 2017 Präsident des Deutschen Leherverbandes, der größten Lehrerorganisation außerhalb des DGB. Zuvor führte er ab 2004 den Deutschen Philologenverband. Geboren wurde der Gymnasialrektor im Ruhestand – Fächer: Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie – 1954 in Regensburg. Anfang des Jahres erschien sein mehrfach gelobtes Thesenbändchen „Die zehn Todsünden der Schulpolitik. Eine Streitschrift“

Foto: Unglückliche Schüler – Bildungsmisere in Zeiten von Corona: „Besonders ärgert mich, daß in der Pandemie Bildung und Schulen erst nicht, später nur nachrangig von der Politik unterstützt wurden. Während es ein Hilfsprogramm nach dem anderen für die Wirtschaft gab ... Seit Jahrzehnten drückt sich die Politik um die Lösung der offenkundigen Schwachstellen herum“