© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Raman Pratasewitsch. Wer ist der bis eben noch Unbekannte, über den nun jeder spricht?
Der Staatsfeind
Filip Gašpar

Manche befürchten, er werde sogar gefoltert – zumindest aber habe man ihm brutal die Nase gebrochen, vermutet der Vater Raman Pratasewitschs, als er am Dienstag die ersten Bilder seines entführten Sohnes sieht, wegen dessen angeblich stark abgeschminkten Gesichts. Ganz sicher indes ist sich Dzmitry Pratasewitsch, daß das Geständnis, das der 26jährige im weißrussischen Staatsfernsehen vor aller Welt abgelegt hat – er habe per Messenger-Dienst Telegram oppositionelle Demonstrationen organisiert –, unwahr und erpreßt ist: „Er kann nicht zugeben, Massenunruhen verursacht zu haben, weil er so etwas einfach nicht getan hat“, beteuert der Alte verzweifelt. Wie aber wurde ausgerechnet sein Filius so etwas wie der Staatsfeind Nummer eins Alexander Lukaschenkos, des „letzten Diktators Europas“ (Fox News), der seit 1994 Weißrußland beherrscht? 

  Geboren 1995 in Minsk, studierte Raman Pratasewitsch Journalismus an der Staatsuniversität, bis er dieser 2018 verwiesen wurde. Denn schon seit früher Jugend engagierte er sich politisch, nahm an den Protesten gegen Präsident Lukaschenko teil. Vor allem aber war der damalige Schüler einer der Administratoren einer der größten Anti-Lukaschenko-Gruppen im sozialen Netzwerk „VKontakte“, dem russischen Pendant zu Facebook, bis diese von den Behörden gehackt wurde. Später arbeitete er als Fotograf für Euroradio.fm, einem privaten Sender, der beansprucht, das Land mit unabhängigen Informationen zu versorgen, sowie als Reporter für die weißrussische Ausgabe des in Prag ansässigen US-Senders Radio Free Europe/Radio Liberty. 2019 ging der junge Journalist dann nach Polen, wo er 2020 um politisches Asyl bat. 

Zusammen mit seinem jüngeren Landsmann Stepan Putilo, ebenfalls Blogger und Journalist, gründete er dort den Telegram-Kanal „Nexta“ (gesprochen: Nechta, zu deutsch „Jemand“). Weil Nexta dank Telegram in der Lage ist, das staatliche Kontrollsystem zu umgehen, war er zeitweise die einzige unzensierte Nachrichtenquelle Weißrußlands. Während der Präsidentschaftswahl 2020 stieg die Abonnentenzahl für geraume Zeit sogar auf über zwei Millionen Leser an, wobei man in einer einzigen Woche 800.000 neuen Abonnenten gewonnen hatte. Nach den massiven Wahlbetrugsvorwürfen gegen Lukaschenko organisierten sich Hunderttausende Demonstranten (JF 35/20) per Nexta. 

Zwar verließ Pratasewitsch im September 2020 den Kanal, doch erklärte ein Gericht ihn zur extremistischen Vereinigung, und Raman wurde wegen Anstiftung zu sozialem Hass angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihm nun bis zu 15 Jahre Haft. Noch schlimmer aber ist eine weitere Anklage: Terrorismus – der in Lukaschenkos Reich mit dem Tod bestraft werden kann: Genickschuß ohne Abschied von der Familie und verscharren der Leiche an unbekanntem Ort.