© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

„Da herrschte Pogromstimmung“
Nahost-Konflikt: Politik uneins über Anteil des eingewanderten Antisemitismus
Peter Freitag

Wie umgehen mit dem Antisemitismus, der sich bei Protesten von überwiegend arabisch- oder türkischstämmigen Demonstranten auf den Straßen hierzulande offenbarte (JF 21/21)? Was tun, wenn der kriegerische Konflikt im Nahen Osten dazu führt, daß in Deutschland jüdische Einrichtungen attackiert werden? Das beschäftigt Politik und Medien auch weiterhin. Im Bundestag verurteilten vergangene Woche alle Fraktionen die jüngsten antisemitischen Ausfälle bei propalästinensischen Kundgebungen scharf. Doch während die stellvertretende Vorsitzende der AfD-Fraktion, Beatrix von Storch, der Bundesregierung vorwarf, sie habe mit ihrer Einwanderungspolitik „Judenhaß aus dem Nahen Osten nach Deutschland importiert“, warfen Redner der anderen Fraktionen der AfD eine Instrumentalisierung des Themas vor. 

Unterdessen wurde erneut Kritik an der Erfassung antisemitischer Straftaten in der Kriminalstatistik laut. Denn ausweislich dieser gingen sie im vergangenen Jahr zu 94,6 Prozent auf das Konto politisch rechts motivierter Täter (JF 21/21). „Die Statistik gibt die Realität nicht wieder“, monierte der Direktor des American Jewish Committee (AJC) in Berlin, Remko Leemhuis, vergangene Woche in der Bundespressekonferenz. 

Anstatt eine antisemitische Straftat, deren Urheber nicht ermittelt wurden, als „nicht zuzuordnen“ zu registrieren, werde sie als „Politisch Motivierte Kriminalität – rechts“ erfaßt. Leemhuis betonte, daß die Erfahrungen aus den Opferberatungsstellen dieser Zuordnung widersprächen. Und er erwähnte, bei einer der jüngsten Demonstrationen habe auf der stark migrantisch geprägten Sonnenallee in Neukölln „nicht weniger als eine Pogromstimmung“ geherrscht. Man habe schon öfter bei der Innenministerkonferenz auf eine Änderung der Vorgaben für die Erfassung gedrungen, doch bisher ohne Erfolg. „Wie wollen wir Antisemitismus bekämpfen, wenn wir kein vollständiges Bild haben, woher er kommt?“ beklagte der AJC-Vertreter. 

Das Bundesinnenministerium hält ungeachtet dessen an der Praxis fest. Die Begründung fällt dabei allerdings in die Kategorie „Haben wir schon immer so gemacht“. Wörtlich sagte Seehofers Sprecher, daß „Bund und Länder vereinbart haben, fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten als rechtsmotiviert einzustufen, wenn die Tatumstände keine eindeutigen Hinweise auf eine andere Motivation zulassen.“ 

„Keine statistischen Verzerrungen“

Das Bundeskriminalamt teilte der JUNGEN FREIHEIT auf Anfrage mit, daß grundsätzlich „alle politisch motivierten Straftaten differenziert zu bewerten und zu melden“ seien. Bei der Zuordnung werde „im wesentlichen die ideologischen Hintergründe und Ursachen der Straftat abgebildet“. Bei der Bewertung antisemitischer Straftaten trage man in der Praxis „der engen inhaltlichen Verknüpfung der rechten Ideologie mit antisemitischem Gedankengut Rechnung“. Lägen gegenteilige Anhaltspunkte zur Tätermotivation vor, erfordere dies die Zuordnung zu anderen „Phänomenbereichen“, also etwa denen religiöser oder ausländischer Ideologie. 

In der Regel, so BKA-Sprecherin Barbara Hübner, „ergeben sich aus dem jeweiligen Sachverhalt Tatsachen (z. B. Wortlaut bzw. Sprache von antisemitischen Schmierereien, aktuelle/historische politische Bezugsereignisse, Tatortumfeld, regionaler Bezug/Religionszugehörigkeit der ggf. ermittelten Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund) zur eindeutigen Zuordnung der Straftat zu einem Phänomenbereich“. Da bei den aufgeklärten antisemitischen Straftaten der Anteil rechts-motivierter Täter bei 90 Prozent gelegen habe, gehe man davon aus, daß dies auch dem Anteil unter den nicht-aufgeklärten entspreche. Sie als „nicht zuzuordnen“ zu verbuchen, wäre also laut BKA nicht „sachgerecht“. Die interne Qualitätssicherung habe in den vergangenen Jahren „keine Hinweise auf eine statistisch verzerrende Wirkung dieser Zuordnungsregel ergeben“.

Unterdessen hatte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) dem Rechtsausschuß des Landtags über den Ermittlungsstand nach den jüngsten Ausschreitungen berichtet, von denen das bevölkerungsreichste Bundesland besonders betroffen war. Demnach habe die Polizei insgesamt 62 Vorfälle mit antisemitischem oder antiisraelischem Bezug gemeldet. 111 Tatverdächtige wurden erfaßt, von denen man 36 namentlich identifizieren konnte. Sie alle sind laut Innenministerium arabischstämmig und teilweise in Deutschland geboren, so daß sie die deutsche Staatsbürgerschaft besäßen. Bei sieben Verdächtigen lägen „staatsschutzrelevante Informationen“ vor.

NRW-Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der Union, Armin Lachet (CDU), forderte angesichts der Szene auf den Demonstrationen, die Fahne der islamistischen Hamas in Deutschland zu verbieten. „Wir haben die Fahne der PKK verboten, weil es eine terroristische Organisation ist“, sagte Laschet im Düsseldorfer Landtag. „Eine Fahne, die für Terrorismus steht, darf nicht auf deutschen Straßen gezeigt werden“. 

Verboten hat das Bundesinnenministerium zunächst drei Vereine aus dem Umfeld der Hisbollah. Dabei handelt es sich um die Vereine „Deutsche Libanesische Familie“, „Menschen für Menschen“ und „Gib Frieden“. Wie ein Sprecher des Innenministeriums mitteilte, unterstützten diese drei Vereine „direkt das Umfeld der Hisbollah im Libanon und damit terroristische Aktivitäten.“ Die Vereinsverbote seien „keine unmittelbare Reaktion“ auf die jüngsten Ausschreitungen, sondern „bereits vor längerer Zeit“ initiiert worden seien.