© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Verkannter Visionär
Nachruf: Mit seiner Forderung „Einheit statt Raketen“ rührte er 1986 deutschlandpolitisch ein heißes Eisen an /Zum Tod des CDU-Politikers Bernhard Friedmann
Christian Vollradt

Das Bonmot „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ ist längst zum geflügelten Wort geworden, selbst wenn es der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow bekanntlich so nie geäußert hat. Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt und entsprechend handelt, über den rollt die Geschichte hinweg; das ist die Quintessenz dieses auf den historischen Umbruch des Jahres 1989 gemünzten Spruchs. 

Freilich scheint die Unerbittlichkeit des Schicksals genauso im umgekehrten Fall zu gelten: Auch wer zu früh kommt, wird nicht gerade belohnt, zumindest nicht mit öffentlicher Anerkennung, Würdigung oder wenigstens nachträglicher Abbitte. Auf kaum jemanden trifft das so zu wie auf Bernhard Friedmann, jenen CDU-Bundestagsabgeordneten aus dem badischen Rastatt, der es bereits 1986 angesichts der Gipfelgespräche von Reykjavik zwischen den USA und der Sowjetunion gewagt hatte, von der Bundesregierung eine aktive Wiedervereinigungspolitik einzufordern. 

Worum es Friedmann mit seinem deutschlandpolitischen Forderungskatalog, den er ein Jahr später noch einmal ausführlicher als Buch unter dem Titel „Einheit statt Raketen“ vorlegte, im Kern ging: Amerikaner und Sowjets sollten nicht nur über den Abbau ihres Arsenals an Raketen und Atomsprengköpfen verhandeln, sondern auch über eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Denn die Teilung der Deutschen, so Friedmann, sei eine der Ursachen für die Spannungen. Kurz gesagt: „Ein wiedervereinigtes Deutschland wäre die beste Sicherheitsgarantie für den Osten und den Westen.“

Helmut Kohl nannte die Ausführungen seines Parteifreunds „blühenden Unsinn“, ein Staatssekretär hielt die Thesen für „eine gefährliche Illusion“. Die deutsche Frage sei offen, aber nicht aktuell – das war die Linie der Regierung in den achtziger Jahren. Was sollten da die Hirngespinste eines Provinzpolitikers, der zwar promovierter Volkswirt und seit 1976 direktgewähltes Mitglied des Bundestags war, aber als Vorsitzender des Rechnungsprüfungsausschusses kein Fachmann für sicherheitspolitische Fragen?

Doch die öffentliche Resonanz war keineswegs so ablehnend wie die des Bonner Establishments. Ein deutscher Abgeordneter habe noch den Mut, „von einem Thema zu sprechen, das den Beschwichtigungsräten zum Trotz seine weltpolitische Bedeutung behalten wird“, meinte etwa Herbert Kremp in der Welt am Sonntag. In der FAZ sprang Karl Feldmeyer bei und kritisierte, die Bundesregierung habe jegliche aktive Wiedervereinigungspolitik aufgegeben, obwohl das Grundgesetz sie forderte (JF 52/16–1/17). Gehör fand Christdemokrat Friedmann auch beim damaligen Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts, Detlef Kühn (FDP), der wiederum seine eigene Partei aufforderte, in der Deutschlandpolitik wieder die Vorreiterrolle anzustreben, die die Liberalen einmal innehatten.

Zustimmung für seine Thesen bekam der Bundestagsabgeordnete zudem in vielen Zuschriften. „Für die Mehrheit der Bürger in der Bundesrepublik ist die Wiedervereinigung und damit die deutsche Einheit aktueller als für die Mehrheit der gewählten Politiker“, resümierte Friedmann in einem Interview, das die JUNGE FREIHEIT 1987 mit ihm führte. Vehement wies er darin den Vorwurf zurück, er habe mit seinem Plädoyer den Grundsatz „Freiheit vor Einheit“ über den Haufen geworfen. „Eine Wiedervereinigung ist nur in Freiheit und unter Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk möglich. So gesehen resultiert für mich aus dem Vorrang der Freiheit geradezu die Pflicht zur Wiedervereinigung.“ Die Utopien von heute sind die Wirklichkeiten von morgen, war sich Friedmann 1986 gewiß. 

Drei Jahre später sollte sich der Satz eindrucksvoll bewahrheiten. „Wir sind aber auch bereit, konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen“, kündigte Helmut Kohl am 28. November 1989 in seinem Zehn-Punkte-Plan an. Damit griff der Pragmatiker und Machtmensch im Kanzleramt genau die Wegbeschreibung zur deutschen Einheit auf, die der aufmüpfige Abgeordnete vorgezeichnet und die Kohl noch als „Unsinn“ zurückgewiesen hatte. „Mit der Konföderation beginnen“ – so lautete der Titel des Interviews, das Friedmann der JUNGEN FREIHEIT schon zwei Jahre vor dem Mauerfall gegeben hatte. Die letzten Schritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung – freie Volkskammerwahl, Wirtschafts- und Währungsunion, Einigungsvertrag – begleitete Friedmann schon nicht mehr als Abgeordneter. 

Er hatte sein Direktmandat, das er viermal gewann, im Februar 1990 niedergelegt, um an den Europäischen Rechnungshof zu wechseln, an dessen Spitze er von 1996 bis 1998 stand. Als Ruheständler war er zwischen 2003 und 2007 Präsident des Studienzentrums Weikersheim. Sein Heimatort Ottersweier machte ihn zum Ehrenbürger, die Universität Freiburg zum Honorarprofessor. Seine Rolle als Visionär der deutschen Einheit würdigten nur wenige. 

Am vergangenen Dienstag ist Bernhard Friedmann im Alter von 89 Jahren in Karlsruhe gestorben.