© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Manipuliert mit Modellen
Voraussagekraft: Es gibt keine Argumente, Menschen wegzusperren / Infektionsmodelle haben versagt
Mathias Pellack

Die Corona-Pandemie neigt sich dem Ende zu. Das Virus wird endemisch. Die Impfungen sind unter den „Vulnerablen“ – sprich den Alten und Immunschwachen – weit fortgeschritten. Die vom Bundestag ausgerufene „epidemische Lage“ hätte wegen der Saisonalität von Sars-CoV-2 ohne ernsthafte Bedenken schon Anfang Mai aufgehoben werden können, wie der Blick in fast alle Nachbarländer zeigt. Doch ist das wirklich das Ende der Lockdowns? Wohl kaum. Am Horizont warten größere Herausforderungen auf Deutschland.

Als Vorwarnung darf die Aussage des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer gesehen werden, der in der Welt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimagesetz kommentierte: „Es wäre falsch, nach dem Corona-Lockdown in einen Klima-Lockdown zu gehen“, denn Unions-Politiker haben nicht erst in der Corona-Krise ein feines Gespür dafür gezeigt, wie die Bevölkerung auf kommende Einschnitte vorzubereiten ist.

Wie kommt Kretschmer auf die Idee eines „Klima-Lockdowns“? Das Wegschließen (engl.: to lock down) großer Teile der Bevölkerung hatte Erfolg bei der geplanten Verringerung des CO2-Ausstoßes. Während Deutschland im Jahr 2019 im Vergleich zu 2018 seinen Treibhausgasausstoß nur um 5,4 Prozent verringern konnte, gelang dies 2020 um 8,7 Prozent senken.

Doch Corona und der Klimawandel haben noch weitere augenfällige Gemeinsamkeiten: die statistischen Modellierungen und die apodiktische Wirkung von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf die Politik. 

Modellierer beraten die Regierungen. Modellierer sitzen in den abendlichen Unterhaltungssendungen. Und ihre Modelle werden in allen Medien präsentiert. Klimamodelle hatten dabei bisher das Glück, Voraussagen für einen sehr langen Zeitraum zu treffen. Ihre Prognosen treten, wenn überhaupt, erst nach Jahrzehnten ein. Die modellierten Erwartungen der Klimaänderung fielen in der Zwischenzeit oft dem Vergessen anheim und wurden nicht überprüft.

Anders steht es um die Modellierung des Verlaufs der Zahl der Ansteckungen und der Verbreitung von Sars-CoV-2. Hier wurden auf der Basis von wenigstens 22 Modellen in unterschiedlichen Abständen fast 200 Vorausberechnungen allein seit Anfang 2021 veröffentlicht, wie das „European Covid-19 Forecast Hub“ zeigt. Auf der Netzseite, die vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und der Universität London betrieben wird, können die Voraussagen der Wissenschaftler leicht der Realität gegenübergestellt werden. Und so viel vorab: Gäbe es Schulnoten, würde keines der Modelle es über ein „Mangelhaft“ hinausschaffen.

Natürlich bleibt in jedem Versuch, eine zukünftige Entwicklung zu beschreiben, immer Unsicherheit bestehen. Menschen können ihr Verhalten anpassen; staatliche Maßnahmen zeigen doch Effekte; die Impfungen wirken. Deshalb kommen die meisten Modellrechnungen mit einem sogenannten Konfidenzintervall daher – einem Vertrauensbereich, in dem der zu erwartende Wert mit der angegebenen Wahrscheinlichkeit liegen wird. Übliche Vertrauensbereiche sind etwa 50 Prozent oder 95 Prozent. Doch bergen diese Vertrauensbereiche eine Sicherheit. Denn Übergroß gewählte Intervalle rückten die wissenschaftliche Voraussagekraft  der Coronamodelle oft in die Nähe von Horoskopen.

Voraussage einer Trendumkehr nicht geglückt

Die beim „Forecast Hub“ gelisteten Modelle zeigten in nur 20 Prozent der Modellierungen wenigstens annähernd den tatsächlichen Verlauf der Inzidenzkurve. Lediglich knapp über die Hälfte der Modellierungen schaffte es, einen bestehenden Ansteckungstrend über vier Wochen korrekt fortzuzeichnen und dabei innerhalb des 50prozentigen Vertrauensbereichs zu bleiben. Für 13 der 22 Modelle schwankte der tatsächliche Inzidenzwert so stark, daß er aus dem 95-Prozent-Vertrauensbereich wenigstens einmal ausbrach. Von den restlichen neun Modellen gaben acht im 95-Prozent-Bereich einen Vertrauensbereich von wenigstens 50.000, meist aber deutlich mehr Corona-Fällen für die darauffolgende Woche an.

Welche Inzidenz herrschen wird, ob Einschränkungen gelten sollen oder nicht, ließ sich daraus nicht ableiten. Das eine verbleibende Modell hat nur für ein Datum eine Voraussage geliefert, verlängerte den Ansteckungstrend und lag richtig. Die politisch interessanteste Frage zu beantworten, wann sich der Trend ändert und von steigenden in fallende (oder umgekehrt) Inzidenzen umschlägt, glückte sehr selten. Zu Beginn der dritten Welle sagte kein Modell den erneuten Anstieg voraus. Unter den 22 Modellen ist auch das von der Arbeitsgruppe am Max-Planck- Institut für Dynamik und Selbstorganisation um die Physikerin Viola Priesemann, die als Beraterin der Kanzlerin viel mediale Aufmerksamkeit erhielt. Ihr Modell sagte Ende Februar für März stagnierende Fallzahlen voraus, trotz der bekannten höheren Ansteckungsfähigkeit der britischen Mutante. Die tatsächliche Trendwende zum Anstieg der Fallzahlen wurde auch von ihr nicht erkannt.

In den folgenden Wochen aktualisierte Priesemanns Gruppe, wie es üblich ist, die Modellierungen mit neuen Daten. Das Modell übertraf in seiner Voraussage im Mai alle anderen im „Forecast Hub“ gelisteten. Die Inzidenzen blieben hinter den Erwartungen zurück. Rückwirkend rechtfertigt sich die Leiterin der Forschungsgruppe mit dem Hinweis auf die Medien. Diese hätten bestimmte extreme Modelle bevorzugt.

Szenarien für den schlechtesten Verlauf – die als Angstmacher eingesetzt wurden, um die Mobilität der Bevölkerung gering zu halten – sind dabei nichts Neues. Der Physiker und Mobilitätsforscher Kai Nagel von der TU Berlin entwarf ein regelrechtes Horrorszenario, in welchem Inzidenzen von 2.000 als möglich dargestellt werden. Nagel schreibt zwar in seiner Arbeit „Modus-Covid-Bericht vom 19. März 2021“, daß er sein Szenario für unwahrscheinlich hält, doch eine Darstellung der Bedingtheit der Vorausberechnungen findet in den meisten Medien nicht oder nur stark verkürzt statt. Also tatsächlich alles nur ein mediales Problem?

Überprüfungen sind leider noch kein Standard

Das Bundesministerium des Inneren hatte zu Beginn der Pandemie 2020 ein solches „Worst-Case-Szenario“ als Druckmittel beim RKI bestellt. Es sollte den Lockdown rechtfertigen. Wissenschaftlich ist daran nichts verwerflich, sich mit möglichen Entwicklungen zu beschäftigen. Diese Kurzfristigkeit und Bedingtheit ihrer Berechnungen ist den Modellieren durchaus bekannt. So erklärte Priesemann der Welt: „Die Prognose von Sars-CoV-2-Fallzahlen kann man mit einer Wettervorhersage vergleichen. Kurzfristig funktioniert das mit allen Modellen gut. Bei langfristigen Aussagen sind aber nur Szenarien möglich.“ Ab welcher Dauer ein tragfähiges Modell, das versucht, eine Prognose zu bieten, zu einem vagen Szenario wird, läßt die Physikerin an dieser Stelle leider ungeklärt.

Eine Verbesserung der Modelle ist dabei selbst mit kleinen Mitteln möglich. Der Professor für Clinical Neurosciences an der Charité, Ulrich Dirnagl, kritisiert im Labor Journal die fehlende Überprüfung vieler Vorausberechnungen, so auch die vom Priesemann-Team, deren Interpretation die Notwendigkeit eines harten Lockdowns belegen sollte. Gute Modelle müßten auch übertragbar sein, fordert Dirnagl. So habe der Physiker und Neurologe Christian Meisel das Modell von Priesemann auf Schweden angewandt und sei zu Ergebnissen gekommen, die der realen Entwicklung entgegenstehen – rückwirkend angewandt, sagte das Modell dort denselben Abfall der Inzidenz voraus wie für Deutschland, das in den Lockdown ging. Dieses Ergebnis läßt aber nicht nur das Modell, sondern auch den Effekt des Lockdown schlecht aussehen (JF 14).

Das Problem der Modelle mit ihren vielen Parametern und Faktoren ist, daß sie wie eine Schablone für eine spezielle Frage maßgeschneidert werden. Das mindert aber ihren Wert, da sie nicht mehr örtlich oder auch zeitlich übertragbar sind. Dirnagl findet ein weiteres Hauptproblem in fehlenden oder schlechten Daten. Gesundheitsämter, die sonntags nicht melden oder gar Weihnachten und Ostern geschlossen in den Urlaub gehen, sind dabei nur eins von vielen Hindernissen. 

Dirnagel schreibt: „In Anbetracht all dessen ist die oft propagierte Pseudogenauigkeit der Modellierungsergebnisse schlichtweg vermessen. Es ist, als würde man mit Kanonen – nämlich komplexen, multiparametrischen Modellierungen – auf Spatzen – also auf grob fehlerbehaftete und nicht-valide Datengrundlagen – schießen.“

Doch Dirnagel geht noch einen Schritt weiter. „Welchen Einfluß die derzeit sehr medienpräsenten Modellierer überhaupt auf die Politik haben, oder ob sie von dieser nur benutzt werden, um politisch motivierte Entscheidungen zu rechtfertigen, ist unklar. Dafür können die Modellierer natürlich erst mal nichts. Allerdings wehren sie sich auch nicht gegen eine solche Instrumentalisierung, sondern genießen die mediale Aufmerksamkeit.“

Die apodiktische Herrschaft der Virologen beschäftigt auch Hans von Storch in einem Beitrag in der Naturwissenschaftlichen Rundschau. Dort warnt der Meteorologe und Klimaforscher, daß die Klimawissenschaft und Virologie in einen „postnormalen“ Zustand einer Wissenschaft gewechselt hätten, der durch ein hohes Maß an Dringlichkeit, einen starken Wertebezug, ein hohes Risiko und eine große Unsicherheit gekennzeichnet sei. Das führe letztlich zu einer großen Erwartung seitens der Bevölkerung an die jeweiligen Wissenschaftler, die jeweils richtigen von falschen Entscheidungen zu differenzieren. Der Prozeß der politischen Willensbildung, so von Storch, muß aber schlußendlich nach der politischen Logik ablaufen. Politiker täten gut daran, die verschiedenen Interessen und Informationen besser abzuwägen, anstatt kleinen Gruppen zu viel Aufmerksamkeit zu bieten.

Oder, um Ex-Ministerpräsident Roland Koch (CDU) zu zitieren: „Der Lockdown in Serie ist eben irgendwann verfassungswidrig, selbst wenn man ihn per Gesetz beschließt.“