© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Ohne Milliarden-Spritzen geht nichts
Nahost: Gaza benötigt finanzielle Unterstützung, doch nur ein geringer Teil erreicht die Bedürftigen
Marc Zoellner

Kehrtwende bei der radikalislamischen Hamas? Mitte März ernannte sie überraschend die 64jährige Jamila al-Shanti zum ersten weiblichen Mitglied des 1987 gegründeten Politbüros. Überdeutlich wurde dabei die argumentative Stoßrichtung der Hamas: Diese Entscheidung, bekundete ein Sprecher der Partei, „krönt die zivilisierte Gesinnung unserer Bewegung.“ 

Mit der Ernennung der parteiloyalen Radikalislamistin zum Politbüro-Mitglied, zu dessen Wahl alle vier Jahre die weibliche Bevölkerung des Gazastreifens ausgeschlossen ist, gedachte die Hamas Akzente zu setzen, um ihre Partei in der für den 22. Mai geplanten Parlamentswahl der Palästinensergebiete auch für Frauen wieder attraktiv zu machen. 

Zur Parlamentswahl ist es freilich nie gekommen: Nach Ausbruch der jüngsten Unruhen verschob Palästinenserpräsident und „Fatah“-Führer Mahmud Abbas Ende April die Wahlen „auf unbestimmte Zeit“, bis auch die „Teilnahme Jerusalems und seiner Bewohner sichergestellt“ sei. 

Für die Hamas als innenpolitischer Gegenspieler der Fatah war diese Entscheidung ein schwerer Schlag. Seit der letzten Parlamentswahl vom Januar 2006, in welcher die Hamas gegenüber der Fatah einen Erdrutschsieg errungen hatte, liefern sich beide Organisationen mit ihrem jeweiligen Führungsanspruch über die kompletten Palästinensergebiete bittere Grabenkriege. Der Hamas gelang im Juni 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen, der Fatah, von Israel und den USA unterstützt, über das Westjordanland. Mit Abbas’ Verkündung wurde eine Ausdehnung der Hamas-Einflußsphäre jenseits des Gazastreifens noch einmal präventiv verhindert.

Dort verschanzt sich die Hamas, deren oberstes Chartaziel ganz offiziell noch immer die Auslöschung des Staates Israel ist, zwischen zivilen Gebäuden sowie in kilometerlangen Tunnelstreifen, deren Ausläufer bis auf die ägyptische Sinai-Halbinsel reichen. Oppositionsparteien im Gazastreifen läßt die aus der Moslembruderschaft entsprungene Bewegung nur bedingt zu: In den vergangenen Jahren ging die Hamas sowohl gegen radikalislamische Konkurrenten aus dem salafistischen Umfeld sowie jenem al-Qaidas gewaltsam vor, als auch gegen Ableger der Fatah. Zuletzt scheiterten unter türkischer Vermittlung initiierte Versöhnungsgespräche im September 2020.

Großteil der EU-Gelder wurden zweckentfremdet

Mit einer brachliegenden Wirtschaft im eigenen Gebiet ist die Hamas vital abhängig von ausländischen Devisen. Seit 2012 investierte der Golfstaat Katar über eine Milliarde US-Dollar in den Gazastreifen. Noch 2019 verkündete der Iran, seine monatliche Alimentation auf 30 Millionen US-Dollar zu erhöhen. Allein in den vergangenen vier Jahren förderte die Europäische Union die Palästinensergebiete mit mehr als 2,3 Milliarden Euro. Die wenigsten Hilfsgelder erreichen dabei tatsächlich bedürftige Zivilisten in der Region: Erst Anfang Mai, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters, stellte ein israelisches Militärgericht die 62jährige spanische Aktivistin Juana Ruiz Rishmawi unter Anklage, mittels eines Netzwerkes aus pro-palästinensischen Nichtregierungsorganisationen EU-Gelder in „achtstelliger Höhe“ zweckentfremdet und den Radikalislamisten der Hamas weitergeleitet zu haben.

Foto: Hamas-Kämpfer der Ezz-Al-Din-Al-Qassam-Brigaden im Gazastreifen: Lieber kämpfen als wählen?