© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

„Staatlich finanzierte Entführung“
Weißrußland: Die erzwungene Notlandung einer Ryanair-Maschine und die Festnahme eines regierungskritischen Bloggers erzürnen nicht nur die EU
Jörg Sobolewski

Nach der erzwungenen Notlandung am 23. Mai dieses Jahres spitzt sich die Lage zwischen der Europäischen Union und Belarus weiter zu. Bei einem Flug zwischen Athen und der litauischen Hauptstadt Wilna wurde der Pilot der Maschine aufgrund einer angeblichen Bombendrohung zur Landung in Minsk aufgefordert. Erst nach dem Einsatz eines weißrussischen Jagdflugzeugs kam dieser der Aufforderung nach.

 Bei der anschließenden Kontrolle des Flugzeugs und seiner Passagiere wurde der mitreisende weißrussische Blogger und Oppositionelle Raman Pratasewitsch (Porträt Seite 3) zusammen mit seiner russischen Lebensgefährtin verhaftet. Protasevich hatte sich bereits vor dem Abflug aus Athen über mögliche weißrussische Spionage beschwert. Unter anderem war versucht worden, von seinen Reisedokumenten Fotografien anzufertigen. Auch während des Fluges hatte bei Eintritt in den weißrussischen Luftraum eine vierköpfige Gruppe eine lautstarke Auseinandersetzung mit dem Bordpersonal der irischen Fluglinie Ryanair. Nach der Verhaftung von Pratasewitsch wurde der Maschine der Weiterflug gestattet, weitere vier Personen mit weißrussischer Staatsangehörigkeit fehlten jedoch. 

Angaben des schwedischen Unternehmens Flightradar 24 zufolge wies der Kurs des Flugzeugs bereits vor der Landung in Minsk eine ungewöhnlich hohe Flughöhe auf. Eine mögliche Erklärung besteht in einer erhöhten Geschwindigkeit, mit der der Pilot versucht haben soll, schnellstmöglich litauischen Luftraum zu erreichen, bevor er von der weißrussischen MiG-29 gestoppt wurde. 

Zum Zeitpunkt des weißrussischen Abfangmanövers befand sich der Ryanairflug noch 80 Kilometer von der litauischen Hauptstadt Wilna entfernt. Die Regierung in Minsk verweist auf eine angebliche E-Mail aus dem Umfeld der palästinensischen Hamas, in der eine Explosion des Flugzeugs über Wilna angekündigt worden war. 

Die palästinensische Organisation distanzierte sich von der Behauptung der weißrussischen Regierung. Man habe mit „solchen Methoden, die von obskuren Kräften eingesetzt werden, nichts zu tun“, so der Sprecher der Hamas.

 In einer offiziellen Stellungnahme der Regierung aus Minsk wird der Fall des oppositionellen Bloggers nicht erwähnt, lediglich die Notlandung wird aus Gründen der „Flugsicherheit“ verteidigt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen bezeichnete den Vorgang als „völlig unakzeptabel“. Auch die IATA, der internationale Zusammenschluß des Lufttransportgewerbes, verurteilte in einer Stellungnahme deutlich jeden „unrechtmäßigen Eingriff in die zivile Luftfahrt“.

Mittlerweile haben sowohl EU-Mitgliedsstaaten als auch die Union selber mit der Durchführung von Sanktionen begonnen. So dürfen weißrussische Fluggesellschaften nicht mehr den Luftraum der EU nutzen und auch nicht mehr auf EU-Flughäfen landen. Zudem soll unter anderem die Liste mit Personen und Unternehmen erweitert werden, gegen die Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gelten. Ryanair-Chef O’Leary bezeichnete das weißrussische Vorgehen als „staatlich finanzierte Entführung“.

Die russische Regierung reagierte zurückhaltend und zog Parallelen zu einem ähnlichen Vorfall im Jahr 2013; damals war ein Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales zur Landung in Wien gezwungen worden, da an Bord der Whistleblower Edward Snowden vermutet wurde. 

Kommentar Seite 2