© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Diskussion über die Zahl der Intensivbetten in Deutschland
Der Kobra-Effekt bei Corona
Ulrich van Suntum

Die Hauptsorge in der Corona-Pandemie war und ist noch immer ein Mangel an Intensivbetten. Es wurden apokalyptische Szenen prognostiziert. Jetzt aber mehren sich die Anzeichen, daß eine totale Überlastung der Intensivstationen nicht zu befürchten war. Vielmehr scheinen ökonomische Fehlanreize das tatsächliche Versorgungsbild gravierend verzerrt zu haben. Darauf deuten Ergebnisse des Leibniz-Instituts RWI Essen und einer Forschergruppe um den Kölner Gesundheitsökonomen Matthias Schrappe hin.

Deutschland ist mit 34 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner viermal so gut ausgestattet wie Italien. Damit liegen wir in Europa an der Spitze. Die tatsächliche Belegung war zudem während der Pandemie praktisch konstant. Darunter machten die Corona-Patienten maximal ein Viertel aus. Die scheinbare Überlastung war offenbar ein statistisches Artefakt. Die Zahl der ausgewiesenen Intensivbetten hat seit August 2020 nicht etwa zugenommen, sondern ist um gut 6.000 Plätze gesenkt worden. Dafür tauchte gleichzeitig eine neue „Notfallreserve“ von knapp 12.000 Intensivbetten in der Statistik auf.

Beides war eine Folge der Rettungsschirme, welche die Bundesregierung für die Kliniken aufgespannt hat. Denn zum einen erhielten diese 10,2 Milliarden Euro Ausgleichsfinanzierung für wegbrechende Einnahmen aus ihrem normalen Tagesgeschäft. Und die Summe fiel um so höher aus, je stärker die Intensivstation des betreffenden Krankenhauses ausgelastet war. Somit entstand ein Anreiz, die Zahl der regulären Betten so gering wie möglich auszuweisen und zugleich so viele Covid-Patienten wie möglich auf Intensiv zu legen. Tatsächlich ist die entsprechende Quote mit zuletzt 61 Prozent in Deutschland viel höher als etwa in der Schweiz, wo es nur 25 Prozent sind. Das dürfte kaum medizinische Gründe haben. Zum anderen erhielten die Kliniken 530 Millionen Euro für den Aufbau zusätzlicher Intensivkapazitäten. Diese Notreserve floß aber offenbar nicht in die Auslastungszahlen ein, mit denen in der Politik argumentiert wurde.

So konnten die Krankenhäuser gleichzeitig Geld für das Verschwinden bisheriger und die Schaffung neuer Betten kassieren. Der Fehler lag aber in den wenig durchdachten Finanzierungsmodalitäten. Menschen reagieren nun einmal auf ökonomische Anreize, das gilt auch im Gesundheitswesen. Unter Ökonomen ist das Phänomen paradoxer Reaktionen seit langem als Kobra-Effekt bekannt: Angeblich setzte der britische Gouverneur in Indien einst eine Prämie auf jede gefangene Kobra aus. Doch die Plage wurde immer größer. War­um? Die pfiffigen Inder züchteten daraufhin Schlangen, um möglichst viele Prämien kassieren zu können. Offenbar haben wir derzeit ein ähnliches Problem.






Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte bis 2020 VWL an der Universität Münster.