© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Die eigene Welt pflegen
Rückzug der Ohnmächtigen: Das innere Exil darf nicht als erlittener Zustand begriffen werden
Thorsten Hinz

Vor reichlich einem Jahr wurde in dem von Susanne Dagen geführten Buchhaus Loschwitz in Dresden die erste Staffel der „Exil-Reihe“ vorgestellt. Die Autoren der Premieren-Staffel waren Monika Maron, Jörg Bernig und Uwe Tellkamp. Die Veröffentlichung schlug hohe Wellen, was zum einen mit der Prominenz der Namen, zum anderen mit der Bezeichnung „Exil“ zu tun hatte. Von „Anmaßung“, „Selbstüberhebung“, von einer „Beleidigung der Menschen, die vor den Nazis fliehen mußten“, war die Rede. Ein findiger Lokal-Journalist fand heraus, daß die Buchvorstellung „an einem 7. März stattfand, jenem Tag, an dem 1933 die erste Bücherverbrennung der Nazis stattgefunden hatte, und das in Dresden“, was ein überregional bekannter Autor so buchenswert fand, daß er es via Süddeutscher Zeitung bundesweit verbreitete.

Der Dresdner Aufreger hat einen Vorläufer. Schon 1977 sprach Fritz J. Raddatz, seinerzeit Feuilleton-Chef der Zeit, anläßlich der anschwellenden Ausreisewelle von DDR-Künstlern von einer „zweiten deutschen Exilliteratur“. Das Wort war folgenreich. 1984 fand im Literarischen Kolloquium in West-Berlin sogar eine Veranstaltung mit dem Titel „Flüchtlingsgespräche“ statt. Der ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann hielt den Exil-Begriff eine Zeitlang für angemessen, andere – Sarah Kirsch, Ulrich Schacht, Hans-Joachim Schädlich – wiesen ihn zurück. Manchmal ging der Widerspruch durch ein und dieselbe Person: So wollte der Sachse Erich Loest 1983 vom „Exil“ nichts wissen, es genierte ihn; sein Schicksal sei „eine viel kleinere Geschichte“. Ein Jahr später sagte er hingegen, sein Stoff liege nun mal in der „alten kalten Heimat“, so sei er „vielleicht doch im Exil“.

Die exilierten DDR-Autoren waren ein Sonderfall: Anders als der Pole Witold Gombrowicz, der Tscheche Milan Kundera oder der Russe Alexander Solschenizyn verblieben sie im selben Sprachraum. Überdies war jeder DDR- qua Geburt auch Bundesbürger, was ihm auch bei vergleichsweise geringem Verfolgungsdruck den Entschluß erleichterte, das Land zu verlassen.

Doch ging es in der Diskussion um viel mehr als um technische Fragen. Der Schriftsteller Stephan Hermlin, der das Dritte Reich im Exil überstanden hatte, bestritt vehement den Exil- und Flüchtlingsstatus seiner abgewanderten Kollegen: „Diese Herrschaften sind Ausreiser … Flüchtlinge sind allein wir. Nur wir, niemand sonst, nur wir Antifaschisten.“

Mit der Proklamierung eines antifaschistischen Exklusivrechts verteidigte der überzeugte Kommunist seine persönliche und die Integrität des SED-Staates. Dahinter erhob sich nämlich eine grundsätzliche Frage: War es zulässig, einem System, das sich als expliziter Gegenentwurf zum NS-Totalitarismus definierte, seinerseits repressive bis  neototalitäre Strukturen anzulasten, die zu ähnlichen Ausweich- und Abwehrstrategien führten wie im Dritten Reich? Die Totalitarismus-Theorie beantwortet die Frage mit einem klaren Ja, wobei man der DDR zubilligen kann, eine weiche, eine posttotalitäre Variante praktiziert zu haben. 

Wie aber steht es nun um die Bundesrepublik, von der Bundespräsident Steinmeier am 3. Oktober 2020 sagte: „Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat.“ Auch hier legt sich ein ideologisch intendierter Konformitäts- und Normierungsdruck auf immer mehr Lebensbereiche. Wer heute lautstark gegen die Transformation seiner Grundrechte in beliebig auslegbare Geimpftenrechte pocht, macht sich bereits der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ verdächtig. Diese Neuerfindung des Inlandsgeheimdienstes gemahnt an den Paragraphen 106 „Staatsfeindliche Hetze“ des DDR-Strafgesetzbuches, der Aktivitäten für strafwürdig erklärte, die geeignet waren, die „gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik (…) oder die Tätigkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Organe und Einrichtungen“ zu „diskriminieren“. 

Der Druck lastet auch auf dem Kulturbereich. Die öffentlich-rechtlichen Kultursender, ehedem ein Refugium der Hochkultur, verkommen zu Propaganda-Trompeten. Klima-, Feminismus- oder Diversity-Themen zerhackstücken die klassische Musik und ersetzen kompetente Kunstbetrachtungen. Galerien und Verlage sortieren nonkonforme Künstler aus, und über die Akteure des Satire-Hashtags #allesdichtmachen hat sich haßerfüllte Vernichtungswut ergossen. Das Buchhaus Loschwitz wurde zum Ziel eines Brand- und Säureanschlags, ohne daß die sonst so empörungsbereite Kulturberichterstattung davon groß Notiz genommen hätte.

Letzte Hoffnungen, daß eine parlamentarische Opposition wenn schon nicht als Katechon, dann wenigstens als Lautverstärker für Gegenpositionen wirken könnte, sind unerfüllt geblieben. Man muß sich darauf einrichten, daß der Druck noch zunehmen wird. Wenn die grünen Barbaren an den ganz großen Schalthebeln der Staatsmacht sitzen, wird die Kulturrevolution volle Fahrt aufnahmen.

Was also tut man, wenn die Erkenntnis der Lage die Einsicht in die eigene Ohnmacht bedeutet? Wenn eine „neue Normalität“, ein System aus Normen, die man als falsch, böse und häßlich durchschaut hat, sich als Naturgewalt über einen wälzt? Wenn offener Widerstand absehbar zu nichts anderem führt als zur Selbstbeschädigung?

In Carl Schmitt Selbsterklärung „Ex Captivitate Salus“ liest man: „Im Sommer 1938 erschien in Deutschland ein Buch, in dem es heißt: Wenn in einem Lande nur noch die von der staatlichen Macht organisierte Öffentlichkeit gilt, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den geheimnisvollen Weg, der nach Innen führt; dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille.“ Der Satz ist ein leicht abgewandeltes und zugespitztes Selbstzitat aus Schmitts „Leviathan“.

Die Volksseele ist das eine, das innere Exil, in das sich die Ohnmächtigen zurückziehen, das andere. Wie qualvoll dieser Zustand sein kann, hat Franz Fühmann in der Novelle „Barlach in Güstrow“ (ursprünglich „Das schlimme Jahr“) aufgezeigt. 1937 befindet der Bildhauer, Maler und Schriftsteller Ernst Barlach, dessen Figuren oftmals wie Sinnbilder des Rückzugs auf sich selbst erscheinen, sich in einer klaustrophobischen Situation. Er ist mit einem Ausstellungsverbot belegt, Hunderte seiner Werke werden als „entartet“ aus den Museen entfernt, zahlreiche Plastiken abgebrochen. Er erlebt „ein Ableiern der unsinnigen Bannsprüche Kulturschänder Undeutscher russisch-jüdischer Bolschewik“ (Herv. im Orig.) und fühlt sich gefangen in der Mechanik „immer müder und kraftloser sich drehende(r) Gedanken“. „Verhöhnung, Unrecht, Lüge, doch alle herkömmlichen Mittel geistigen Kampfes dagegen hatten sich als nutzlos erwiesen; Erwiderungen wurden nicht angehört, auf Diskussionsversuche wurde nicht eingegangen, ja sogar sachliche Berichtigungen waren mit Repressalien beantwortet worden“.

Die Gegenwart legt sich wie eine „Garotte“ – ein Leitmotiv der Novelle – um seinen Hals und verursacht ihm Herzbeklemmungen. Tatsächlich ist Barlach 1938 an einem Herzinfarkt gestorben. Fühmann veröffentlichte die Novelle 1963, als er selber auf Distanz zur staatlichen Kulturpolitik in der DDR ging.

Ein anderes authentisches Zeugnis sind die Gedichte Peter Huchels, der 1962 als Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form, dem „geheimen Journal der Nation“ (Walter Jens), abgesetzt worden war und seitdem überwacht und isoliert in seinem Haus bei Potsdam lebte, bis ihm 1971 die Ausreise gestattet wurde. Huchel war ursprünglich kein Regimegegner gewesen, nur hatte er sich jede Bevormundung in ästhetischen Fragen konsequent verbeten.

Mit seiner Kaltstellung ist das freie Wort in den Untergrund gegangen: „Unter der Wurzel der Distel / wohnt nun die Sprache“. Was damals auf die Stasi gemünzt schien, kann heute für die Sprachpolizei gelten: „Es stellen / Die Schatten im Unterholz / Ihr Fangnetz auf.“

Der Preis der Nichtanpassung ist die Einsamkeit: „Am Abend nahen die Freunde, die Schatten der Hügel …/ und führen Gespräche mit meinem Schweigen.“ Die Kulturbanausen aber kosten ihre Macht aus: „Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden./ Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.“ Der innere Exilant, zu dem er gemacht wurde, steht allein inmitten einer gefrosteten Landschaft: „Ich stand auf der Brücke,/ Allein vor der trägen Kälte des Himmels./ Atmete noch schwach,/ Durch die Kehle des Schildrohrs, / Der vereiste Fluß?“ 

Sowohl bei Fühmann/Barlach wie bei Huchel ist das innere Exil ein Ort der Kreativität, im übrigen aber ausschließlich eine Leidensstätte. Auf die Dauer nimmt man damit Schaden an Leib und Seele. Das innere Exil muß daher als aktiver Prozeß und nicht als erlittener Zustand begriffen und gelebt werden. In diesem Sinne hat die Buchhaus-Inhaberin Susanne Dagen erklärt: „Exil ist für uns was anderes: nicht flüchten zu müssen, sondern eine eigene Welt zu pflegen gegen alle Widerstände, und die sind existentiell.“ Es ist eine Welt aus eigenem Recht, die sich nicht primär aus dem „Dagegen“ definiert. 

Dabei sind Pragmatismus, Flexibilität und Gelassenheit gefragt. Man muß akzeptieren, am Charakter der Umgebung nichts ändern zu können. Doch ist deswegen nicht jeder und alles darin als feindlich zu betrachten. Wozu unnötige Angriffsflächen bieten? Nur wenige Konflikte sind es wert, bis in die persönliche Konfrontation hinein ausdiskutiert zu werden. Man muß nicht über jedes Medienstöckchen springen, auf jede Stichelei reagieren, sich in aktuellen Nebensächlichkeiten verzetteln.

An Baerbock, Böhmermann, Steinmeier und all den anderen soll man sich eher selten, dann aber in exemplarischer Weise abarbeiten. Mit den unabänderlichen Umständen sind tausend kleine Kompromisse zu schließen, die je nach individueller Lebenssituation unterschiedlich ausfallen. Man muß improvisieren und Alternativen aufspüren. Wer sich über die politisch-korrekt überfrachteten Kultursender ärgert, kann dank Internet den Sender France Musique la Baroque einschalten, der ein vorzügliches, geschwätzfreies Klassik-Programm bietet.

Zu den zeitlosen Werken über die individuelle Selbstbehauptung in feindlicher Umgebung gehört Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ aus dem Jahr 1939. Der Rückzug des Erzählers und seines Bruder in die Rautenklause hoch über dem vom Oberförster angerichteten Schrecken bedeutet keine Abkehr von der Welt, sondern eröffnet die Möglichkeit, sie im Geistigen desto intensiver zu erfahren und Klarheit über sie zu gewinnen. Die ständige, unmittelbare Konfrontation mit ihren Gemeinheiten und Widrigkeiten würde die Brüder aus den Höhen der Reflexion bloß in die Niederungen permanenter Überreizung stürzen.

Das Haus auf den Marmorklippen ist der Ort unverstellter Kommunikation, der freien Rede, des ruhigen Austauschs der Argumente – alles dessen, was in der von Lüge, Gewalt und Furcht geprägten Außenwelt nicht mehr möglich ist. Widerstehen heißt zunächst also, in der Sicherheit des Schweigens einen Raum zu erschaffen, in dem die kollektive Verrücktheit außer Kraft gesetzt ist. Trotz aller Verborgenheit ist das bereits ein politischer Akt, denn es wird im Miniaturformat eine andere Möglichkeit für die Gesellschaft realisiert. Die Gegenkraft, die hier entsteht, muß keine Neuauflage des Kreisauer Krauses sein. Ein Schutzraum vor dem Zugriff des Gemeinen genügt fürs erste, denn: „Tief ist der Haß, der in den niederen Herzen dem Schönen gegenüber brennt.“ 

Fünfzig Jahre später heißt es in Christa Wolfs Erzählung „Sommerstück“ ganz ähnlich: „Was bleibt zu hoffen für eine Zeit, die vom Hohn auf Schönheit gezeichnet ist?“ Auch dieser Text handelt von einer kultivierten, verschworenen Gemeinschaft, die saisonweise den Rückzug in ein Dorf in Mecklenburg angetreten hat, wo sie versucht, das Private der Politisierung zu entziehen und das Alltägliche, das Familienleben, die Freundschaften zu kultivieren. 

In diesem Sinne heißt Exil – zu hoffen.