© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Baldur von Schirach als Sachwalter Goethes
Ideologische Herzensangelegenheit
(dg)

Seit 1953 unter einem Verwaltungsdach vereint, spielten die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar bis zum Mauerfall eine zentrale Rolle im Kulturleben der DDR. Deren erstes Renommierprojekt war der 1958 erschienene Katalog von Goethes rund 7.000 Bände umfassenden Nachlaß-Bibliothek, die als wichtiger Schlüssel zum Werk des Dichterfürsten gilt. Seit der ersten Ankündigung eines solchen Verzeichnisses waren volle 70 Jahre vergangen. Immer wieder, so hieß es im Vorwort, sei das Unternehmen in Angriff genommen und abgebrochen worden. Zuletzt noch während des Zweiten Weltkrieges. Eine rätselhafte Bemerkung, die Stefan Höppner stutzig machte. Wer opferte mitten im „Totalen Krieg“ dafür Zeit und Geld? Der Freiburger Literaturhistoriker, der das Projekt „Goethe digital“ leitet und von dem bald eine Geschichte von Goethes Bibliothek, einer der ältesten erhaltenen Autorenbibliotheken im deutschen Sprachraum, zu erwarten ist, fand heraus, daß dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach dieses philologische Projekt seit 1937 eine „ideologische Herzensangelegenheit“ gewesen sei, die er in den 1940ern, als Gauleiter von Wien, weiterverfolgt habe. Spekulierte der aus dem Weimarer Bildungsbürgertum stammende NS-Funktionär doch darauf, daß die Position eines „Sachwalters Goethes“ sowohl den pädagogischen Führungsanspruch der Hitlerjugend gegenüber bürgerlichen Elternhäusern legitimieren als auch seinen Einfluß in kulturpolitischen Machtkämpfen innerhalb der NS-Polykratie erweitern konnte (Zeitschrift für Ideengeschichte, 2/2021). 


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