© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Britannien stellt sich dem linken Kulturkampf
Boris Johnsons Regierung verteidigt die Meinungsfreiheit an Universitäten gegen die „Cancel Culture“
Julian Schneider

Ein neues Gesetz soll der „Cancel Culture“ einen Riegel vorschieben und die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit an englischen Universitäten stärken. Das sind die erklärten Ziele der von Boris Johnsons Tory-Regierung entworfenen „Higher Education (Free Speech) Bill“. Sie zeigt, daß sich die Konservativen dem von „progressiver“ Seite ausgehenden Kulturkampf entgegenstellen, nachdem es eine Reihe von Vorfällen gab, bei denen Redner an Vorträgen gehindert wurden.

Über die „Cancel Culture“ (Löschkultur) wird seitdem viel diskutiert. Hochschulen werden mit dem neuen Gesetz stärker verpflichtet, die Redefreiheit zu verteidigen. Das Mundtotmachen und Ausladen von Rednern, der Kern der „Cancel Culture“, soll an den Universitäten in England künftig eine Strafe nach sich ziehen. Dafür soll ein Direktor für Redefreiheit und Akademische Freiheit im staatlichen Studentenbüro sorgen.

Urin-Angriff gegen Abweichler

Bildungsminister Gavin Williamson zeigt sich schon länger besorgt über den einschüchternden Zensurdruck an vielen Universitäten. Als der Gesetzentwurf nun Mitte Mai nach der Queens Speech ins Parlament eingebracht wurde, verwies Williamson auf das Wahlversprechen der Konservativen, die Rechte von Studenten und Akademikern zu verteidigen und den sogenannten „Chilling Effect“ (Abschreckungseffekt) durch Zensur auf dem Campus zu beenden.

Das Gesetz gilt für England, die anderen britischen Landesteile wie Schottland und Wales haben in der Bildungspolitik eigene Regelungen. In Schottland ist die linke Regierungspartei SNP sogar explizit auf dem gegenteiligen Kurs. Sie hat erst jüngst ein Gesetz gegen „Hate Speech“ verabschiedet, das sogar diskriminierende Äußerungen von Privatpersonen in den eigenen vier Wänden unter Strafe stellen soll.

Die Schärfe des Kulturkampfs an Universitäten in der angelsächsischen Welt, von Amerika und Australien bis Großbritannien, ausgetragen zwischen den dominierenden akademischen „Progressiven“ beziehungsweise „Liberalen“ und der verbliebenen Unterzahl der Konservativen, kann man sich in Deutschland schwer vorstellen. Redner, die von linken Gruppen oder LGBT-Aktivisten als „umstritten“ oder „rechts“ markiert werden, hindert man am Reden. „No Platforming“ nennt sich das.

Umfragen zeigen, daß der Meinungsdruck so stark wirkt, daß Konservative oder Rechte – die gerade an sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten stark in der Minderheit sind – aus Angst vor sozialen Sanktionen oft lieber schweigen und zu Selbstzensur greifen. Diesen „Chilling Effect“ (Einschüchterungseffekt) hat der Londoner Politologen Eric Kaufmann in mehreren Studien herausgearbeitet.

Williamson nennt in seiner Begründung nur zwei Beispiele für „Cancel Culture“: Als an der Universität Bristol das Middle East Forum eine Diskussion mit dem israelischen Botschafter durchführen wollte, mußte es aufgrund erheblicher Drohungen einen privaten Sicherheitsdienst engagieren, damit die Veranstaltung stattfinden konnte. In einem anderen Fall geriet der Oxford-Theologe und Ethiker Nigel Biggar unter scharfen Beschuß, weil er in seinem Forschungsprojekt über das Empire sagte, daß die Briten darüber nicht nur Scham, sondern auch Stolz empfinden könnten. Es gab noch zahlreiche weitere Fälle von „Cancel Culture“, etwa die Angriffe auf die feministische Oxford-Historikerin Selina Todd, die von Transgender-Aktivisten angegriffen wird, weil sie das biologische Geschlecht als Realität verteidigt.

Jüngst entschuldigte sich die Leitung der Universität von Essex für zwei Ausladungen: Eine Vorlesung der Kriminologin Jo Phoenix von der Open University war „gecancelt“ worden wegen ihrer Kritik an der Zulassung von „Transgenderfrauen“ (also biologischen Männern) in Frauengefängnissen. Und die ebenfalls genderkritische Juristin Rosa Freedman war von einer Holocaust-Konferenz in Essex ausgeladen worden. Der Fall Freedman ist besonders übel: LGBT-Aktivisten hatten zuvor ihre Bürotür in Reading mit Urin beschüttet und sie als „Nazi“ beschimpft und bedroht, nachdem Freedman sich gegen ein Gender-Gesetz ausgesprochen hatte. Sogar mit Holocaust-Leugnern wurde die jüdische Menschenrechtsexpertin gleichgesetzt. Der Kanzler der Universität von Essex bat nun für die Ausladung von der Konferenz offiziell um Entschuldigung.

Die Linke sieht ihre Dominanz bröckeln

Es sind solche Fälle von „Cancel Culture“, die in Großbritannien die Gemüter erhitzt haben. Die Linke sieht nun aber ihre Dominanz bröckeln, seit Konservative zum Gegenangriff blasen. Das neue Gesetz für die englischen Hochschulen sehen Linke wie die Literaturprofessorin Priyamvada Gopal (Cambridge) zu Recht als Bedrohung ihrer angestrebten Hegemonie über den Raum des Sagbaren. Gopal, die während der „Black Lives Matter“-Demonstrationen mit der aggressiven Äußerung „Abolish Whiteness“ (Schafft das Weiß-Sein ab!) auffiel, lamentierte vor einigen Wochen im Guardian, die Debatte über Meinungsfreiheit sei „ein Trojanisches Pferd, um Raum und Aufmerksamkeit zu gewinnen für rückwärtsgewandte Ideen, die nicht wirklich eine Debatte verdienen“.

Einige Linke klagen, die Johnson-Regierung wolle in die Autonomie der Universitäten eingreifen. Eigentlich meinten sie, die linke Mehrheit an den Hochschulen sollte autonom entscheiden dürfen, wem sie das Rederecht entziehe. Aber es gibt auch eher konservative Kommentatoren wie Daniel Finkelstein, der in der Times warnte, das neue Gesetz könne kontraproduktiv sein. Es sei nicht möglich, die „Cancel Culture“ per Gesetz zu canceln. Mehrheitlich aber sind die britischen Konservativen erfreut, daß nun eine Gegenoffensive begonnen hat.

Der Moraltheologe Nigel Biggar gehörte Anfang 2020 mit anderen Akademikern und Journalisten zu den Mitgründern der „Free Speech Union“, einer überparteilichen Organisation zur Verteidigung der Meinungsfreiheit, die im ersten Jahr ihrer Existenz schon in mehr als einhundert Fällen von Angriffen auf die Redefreiheit an Universitäten eingeschaltet wurde. Nun reagierte die FSU begeistert auf die Free Speech Bill. Im Vorjahr hat schon Australien ein vergleichbares Gesetz zur Stärkung der Meinungsfreiheit an Universitäten verabschiedet. In den USA sind in einzelnen Bundesstaaten ähnliche Vorhaben in Vorbereitung.

Dort wütet ein besonders radikaler Kampf gegen von den PC-Geboten abweichende Meinungen. Die konservative National Association of Scholars notiert seit Mitte vorigen Jahres 172 Fälle von Zensur an US-amerikanischen und kanadischen Universitäten, darunter Professoren, die teils wegen nichtiger oder bizarrer Verstöße gegen Antirassismusgebote ihren Posten verloren. Vor einigen Monaten gründeten amerikanische Professoren die Academic Freedom Association. Dem deutschen Netzwerk Wissenschaftsfreiheit haben sich inzwischen fast fünfhundert Professoren und Professorinnen angeschlossen. Da Entwicklungen der angelsächsischen akademischen Welt mit der radikalisierten „Cancel Culture“ erfahrungsgemäß mit gewisser Zeitverzögerung auf Kontinentaleuropa überschwappen, sollte man sich beizeiten wappnen. Das englische Gesetz könnte der Anfang einer Gegenbewegung werden.

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