© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Geopolitische Dilemmata Rußlands und des Westens
Für Weltmacht keine Basis
Erich Weede

Seit ungefähr 250 Jahren ist Rußland eine europäische Großmacht. Immer schon haben Großmächte in anderen Großmächten eine Gefahr für ihre Sicherheit und Unabhängigkeit gesehen. Zumindest potentiell rivalisieren Großmächte miteinander. Nichts ist schlimmer für eine Großmacht als die zentrale Position in der Mächtekonstellation. Darunter hat Deutschland vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelitten. Die Zentrallage führt dazu, daß sich besonders viele andere Großmächte durch die zentrale Macht gleichzeitig bedroht fühlen, was zu einem einkreisenden Bündnis der Mächte in sicherheitspolitisch privilegierten peripheren Lagen führen kann und schließlich, wie im Falle Deutschlands, zur vernichtenden Niederlage der Zentralmacht. Für Deutschland bedeutete das 1945 das endgültige Ausscheiden aus dem Kreis der Großmächte.

Aber Großmachtpolitik ist, wie der Amerikaner John Mearsheimer in einem Buchtitel verrät, eine Tragödie, in der auch die Sieger nicht unbedingt über ihren Sieg froh sein können. Großbritannien und Frankreich sind zwar nominelle Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, haben deshalb eine Stimme im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, haben außerdem eigene Atomwaffen, aber seit 1945 ist ihre Macht nie mehr in der gleichen Liga wie die der Randmächte des europäischen Staatensystems gewesen, der Weltmächte USA und Sowjetunion bzw. später wieder Rußland. Beide – und bisher nur diese beiden – haben seit Jahrzehnten die Fähigkeit, sich gegenseitig zu vernichten und dabei die Menschheit vielleicht auszurotten oder zumindest den Überlebenden eine recht prekäre Umwelt zu hinterlassen.

Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Ostasiens entstanden auch östlich von Rußland mächtige Staaten. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts (1905) hatte Japan durch einen Sieg über Rußland bewiesen, daß es eine Großmacht ist. Rußland beziehungsweise die Sowjetunion hatte danach nicht mehr den Rücken frei. Durch sowjetische Siege über Japan im Sommer 1939 an der Grenze von Mongolei und Mandschurei (bei Nuomenhan) und eine geschickte Außenpolitik gelang es Stalin, einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, was wesentlich zum sowjetischen Sieg über Deutschland beigetragen haben dürfte.

Nachdem das mit der Sowjetunion verbündete China Atommacht geworden war – mit einer Tausende Kilometer langen Grenze zur Sowjetunion und der Erinnerung an große Gebietsverluste an Rußland im 19. Jahrhundert – mußten sowjetrussische Strategen nicht mehr nur die Westgrenze des Imperiums sichern, sondern auch die Grenze zu China. Seit Nixon und Kissinger sich mit der Existenz kommunistischer Herrschaft auf dem chinesischen Festland abgefunden hatten, mußten die Sowjets in der Endphase des Kalten Krieges nicht nur die Grenze zur Nato im Westen, sondern auch die zu China mit Hunderttausenden Soldaten und Panzerarmeen sichern.

Die Sowjetunion und ihr Nachfolgerstaat Rußland waren und sind in der Zentrallage gefangen. Vermutlich hat nicht nur die verglichen mit den USA schwache ökonomische Basis Rußlands, sondern auch die Sorge um die chinesische Front zur Überlastung der Sowjet­union beigetragen, als die Amerikaner unter Reagan mit dem Wettrüsten Ernst machten und auf eine Raketenabwehr hofften.

Wirtschaftlich betrachtet, kann Rußland nur noch Juniorpartner Chinas sein. Beide Staaten konkurrieren auch mit den USA, wobei nur China eine annähernd vergleichbare Wirtschaftskraft hat – in Marktpreisen noch darunter, kaufkraftbereinigt schon darüber. 

Die Sowjetuion ist 1990 zerbrochen, Deutschland wiedervereinigt und der Warschauer Pakt aufgelöst. Damals hat der Westen den Eindruck erweckt, die Nato nicht erweitern zu wollen, sich mit der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der Nato zufriedenzugeben. Heute gibt es in sicherheitspolitischen Fachzeitschriften (wie International Security) eine Diskussion darüber, ob und wie die USA und der Westen die Sowjetunion beziehungsweise die Russen getäuscht hatten.

Bei psychologischer Betrachtung ist die Lage einfacher als bei legalistischer. Die deutsche Wiedervereinigung und die Nato-Mitgliedschaft des vereinigten Landes waren explizite Zugeständnisse. Was danach kam, war eine immer weitergehende Verletzung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen. Schon die Nato-Mitgliedschaft Polens war aus Moskauer Sicht ein schwerer Schlag. Die Mitgliedschaft der drei baltischen Staaten, die zwangsweise der Sowjetunion einverleibt worden waren, wurde dann als unerträglich empfunden. Mit Überlegungen zur ukrainischen und georgischen Nato-Mitgliedschaft Anfang des 21. Jahrhunderts hat der Westen dann noch eine russische rote Linie überschritten.

Aus russischer Perspektive war das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – eventuell, aber nur eventuell mit Ausnahme der baltischen Staaten – russische Einflußsphäre und sollte es bleiben. Ein rücksichtsloser Umgang mit schwächeren Nachbarn muß nicht nur als russische oder sowjetische Tradition, sondern als generelles Merkmal von Großmachtpolitik gelten. Mit der Besetzung der Krim und der Unterstützung von Separatisten in ostukrainischen Randgebieten hat Rußland seinen Anspruch geltend gemacht.

Aus westlicher Sicht ist das Denken in Einflußsphären gleichzeitig völkerrechtswidrig, vorgestrig und unmoralisch. Diese Inkompatibilität der Perspektiven macht Verständigung so gut wie unmöglich. Denn aus russischer (ähnlich aus chinesischer) Perspektive ist die Nicht-Anerkennung von Einflußsphären ununterscheidbar von dem westlichen oder amerikanischen Verlangen, die ganze Welt als eigene Einflußsphäre zu betrachten beziehungsweise zu behalten.

Das Ringen um die Ukraine und Weißrußland ist noch nicht entschieden. In Rußland dürfte nicht nur Putin den Eindruck haben, daß westlicher Einfluß in diesen Gebieten das Ende von Rußland als Großmacht vorbereitet. Durch seine wirtschaftliche Schwäche ist dieser Status auf Dauer ohnehin gefährdet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Rußland als Nuklearmacht immer noch Nummer 2 und eher mit den USA als mit China vergleichbar ist. Denn die Chinesen scheinen sich vorerst noch mit weniger als der garantierten Fähigkeit zum Zweitschlag zufriedenzugeben. Sie verhalten sich bisher bei der nuklearen Rüstung so, als ob sie darauf vertrauten, daß schon das Risiko eines Zweitschlags die Amerikaner vom Erstschlag abhält. Aber auf lange Sicht ist Rüstung teuer. Wirtschaftskraft ist die Voraussetzung von militärischem Potential.

Man kann darüber streiten, wie groß die sowjetische Wirtschaftskraft verglichen mit der amerikanischen während des kalten Krieges war. Im Westen hatte man sie damals in der Nähe der Hälfte eingeschätzt, im Rückblick sieht es eher nach einem Viertel oder einem Drittel aus. Immerhin war noch Ende der 1970er Jahre das wirtschaftliche Kräfteverhältnis zwischen der Sowjetunion und China 4 zu 1 zu sowjetischen Gunsten. In Anbetracht dieser wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse ist es erstaunlich, wie lange die Sowjetunion dem westlichen Druck und in den letzten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz zusätzlich dem chinesischen widerstehen konnte. Ein amerikanischer Stratege, Edward Luttwak, hatte deshalb den Sowjets eine fünfmal so hohe Fähigkeit zur Umsetzung von Wirtschaftskraft in militärische Macht wie dem Westen zugeschrieben.

Obwohl Rußland und China heute einander im gemeinsamen Abwehrkampf gegen die amerikanische oder westliche Hegemonie unterstützen, sollte man dennoch auch das Kräfteverhältnis beider Mächte betrachten. Das hat sich bei der Wirtschaft in etwas über vier Jahrzehnten grundsätzlich gewandelt und liegt jetzt dem demographischen Gewicht beider Länder entsprechend in der Nähe von 1 zu 10, aber zugunsten Chinas. Wirtschaftlich betrachtet kann Rußland nur noch Juniorpartner Chinas sein. Gleichzeitig konkurrieren beide Staaten auch mit den USA, wobei nur China eine annähernd vergleichbare Wirtschaftskraft hat – in Marktpreisen noch darunter, kaufkraftbereinigt schon darüber.

Bei diesem Kräfteverhältnis im geopolitischen Kräftedreieck USA-China-Rußland muß sich die russische Führung fragen, ob selbst die fünffache Fähigkeit zur Umsetzung ökonomischer in militärische Macht auf Dauer ausreicht, wenn man es mit Rivalen zehnfacher Wirtschaftsstärke zu tun hat. In der Rangfolge der Staaten nach Wirtschaftsstärke kommt Rußland bestenfalls – nur wenn man nach Kaufkraft und nicht nach Marktkursen rechnet – auf Platz 6, sogar noch hinter Deutschland, bei Marktpreisen auf Platz 11. Das ist keine ausreichende Basis für ein Land mit dem Anspruch, Weltmacht zu sein.

Wenn Rußland mit ähnlichen Mitteln wie im Donbass versucht, ein großes russisches Imperium zu schaffen, wird das die Entfremdung vom Westen nur vertiefen und noch nicht einmal ausreichen, um Gleichwertigkeit mit China oder den USA herzustellen.

Hinzu kommt, daß sowohl China als auch die USA in der Vergangenheit die Fähigkeit zu schnellerem Wirtschaftswachstum als Rußland bewiesen haben. Bei sechs Prozent Wachstum würde sich die Größe der chinesischen Volkswirtschaft nach zwölf Jahren verdoppeln. Bei drei Prozent Wachstum würden die Amerikaner 24 Jahre für die Verdoppelung benötigen, Rußland bei einem Prozent Wachstum 72 Jahre. Weil fast niemand Rußland chinesische oder auch nur amerikanische Wachstumsraten zutraut, ist Rußlands weltpolitischer Abstieg fast unausweichlich. Das gilt ganz ohne Krieg und damit ohne militärische Niederlage.

Sowohl die Partnerschaft mit China als auch die mit den USA impliziert bestenfalls eine Gefolgschaftsrolle für Rußland. Im chinesischen Falle kommt hinzu, daß niemand wissen kann, ob und wann China jemals die Äußere Mandschurei mit den Industriestädten Chabarowsk und Wladiwostok zurückholen möchte.

Russischen Eliten, auch und gerade Waldimir Putin, muß diese Lage bewußt sein. Man merkt das, wenn Russen sich für einen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok aussprechen. Gemeinsam mit der EU würde das russische Wirtschaftspotential für eine dauerhafte Konkurrenzfähigkeit mit China und den USA vielleicht ausreichen. Demographisch haben sowohl China als auch Rußland und die EU Probleme, nur das klassische Einwanderungsland USA deutlich weniger.

Eine Partnerschaft mit Rußland findet in Europa allerdings viel zu wenig Anhänger, um auch nur den Hauch einer Realisierungschance zu haben. Weder der Charakter des russischen Regimes noch die materiellen Lebensverhältnisse der Russen bringen die West- und Mitteleuropäer in Versuchung. Auch bei einer denkbaren Verschlechterung des europäischen Verhältnisses zu den USA wird die EU nicht näher an Rußland heranrücken.

Wenn Rußland mit ähnlichen Mitteln wie im Donbass versucht, durch Druck auf Belarus und die Ukraine zumindest ein großes russisches Imperium zu schaffen, wird das erstens die Entfremdung zwischen Rußland und der EU beziehungsweise dem Westen nur vertiefen und zweitens noch nicht einmal ausreichen, um Gleichwertigkeit Rußlands mit China oder den USA herzustellen.

Gerade weil die geopolitische Lage Rußlands langfristig so prekär ist, kann man – etwa mit dem Amerikaner John Mearsheimer – daran zweifeln, ob eine Eindämmungspolitik gegenüber Rußland als absteigender Weltmacht noch im Interesse der USA, des Westens oder auch der EU ist. Was ein Containment Rußlands – für die Russen beginnt das mit jeder westlichen Einflußnahme im postsowjetischen Raum, vor allem in Belarus und der Ukraine, aber auch in Georgien – schaffen kann, ist nur, die Russen gegen ihren Willen und trotz aller damit für Rußland verbundenen Risiken in eine Partnerschaft mit China zu zwingen.

Im Grunde hat auch der Westen ein geopolitisches Dilemma. Man kann eine russische Einflußsphäre akzeptieren, der Weißrußland und die Ukraine zugehören. Wem das aus menschen- und völkerrechtlichen Gründen inakzeptabel erscheint, der könnte hinnehmen müssen, daß eines Tages die chinesische Einflußsphäre bis Petersburg und ins ehemals deutsche Ostpreußen reicht.

Es mag gute Gründe geben, die Ukraine vor Rußland und Taiwan vor der Volksrepublik China schützen zu wollen, aber es gibt keine guten Gründe dafür, sich Illusionen über den hohen Preis dieser Politik zu machen. Auch wenn es edel ist, die Freiheit bedrohter Völker in Osteuropa oder Fernost zu verteidigen, ist es gefährlich und sehr kostspielig. Von Südvietnam bis Afghanistan wurde das dem Westen schon einmal nach einer Weile zu teuer.






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Hayeks Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ („Eine frühe Warnung“,      JF 9/19).

Foto: Russischer Bär, Weißkopfseeadler der USA und chinesisches Symboltier Drache Long: Konkurrierende Mächte streiten von jeher um die beste Position. Rußland rückt mit der Verschiebung des Schwerpunktes der Weltwirtschaft ins strategische Zentrum.