© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Das Ordnungsprinzip der EU ist die Oligarchie
Der politische Philosoph Luuk van Middelaar, ein versierter Apologet der Brüsseler Politik, gestattet einen Blick in den Maschinenraum der Macht
Dirk Glaser

Einige Monate nach dem islamistischen Terrorangriff vom 11. September 2001, die US-Intervention in Afghanistan lief bereits auf Hochtouren, brachte die niederländische Zeitung Trouw die schäumende Polemik eines jungen Autors, der in seiner Heimat als philosophisches Wunderkind galt. Luuk van Middelaar, Jahrgang 1973, der 1999 mit seiner Magisterarbeit über das realitätsferne, zwischen Nietzsche und Marx pendelnde französische Denken der Sartre, Foucault, Deleuze & Co. Furore gemacht hatte, zog in diesem Text gegen jenen westlichen Defätismus zu Felde, der vor lauter Selbstzweifeln zögere, die USA in ihrem „Krieg gegen den Terror“ rückhaltlos zu unterstützen. 

In diskreter Übereinkunft die Geschäfte abwickeln

Van Middelaars Pamphlet, das ihn, hätte es überhaupt den Hauch einer Chance, gedruckt zu werden, heute über Nacht seinen der Vermittlung „Europäischer Werte“ gewidmeten Lehrstuhl an der Katholischen Universität Louvain/Löwen sowie sein Amt als Professor of Foundations and Practice of the European Union and its Institutions an der Universität Leiden kosten würde, bemühte zur Rechtfertigung der Verteidigung des Westens am Hindukusch ausgerechnet Rudyard Kiplings Wort von des „weißen Mannes Bürde“. 

Wie es zur Hochzeit des Imperialismus und Kolonialismus nach Kiplings Überzeugung die heilige Mission der Briten gewesen sei, Indien die Zivilisation zu bringen, so sei es nun die Pflicht der Nordamerikaner und Europäer, „Afghanistan mit Bomben und Konsumreizen in die Moderne zu zerren“. Skrupel, die aus „einem deprimierenden Schuldgefühl wegen des Kolonialismus, der Sklaverei und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Entwicklungsländer“ resultierten, dürften nicht verdecken, daß die Kolonisation für die Kolonisierten „etwas Vorzügliches war“. Wenn die US-Streitkräfte den Afghanen und anderen Völkern „auf der ganzen Welt, die sich danach sehnten, die Modernität“ brächten, setzten sie das im 16. Jahrhundert begonnene Werk der Zivilisierung des Globus fort. Und dieses „Gute“ breite sich nicht von selbst aus. Wer ein elementares Verständnis von Politik habe, wisse, daß Macht nötig ist, um Menschenrechte zu verwirklichen.

Da aber die westeuropäische Öffentlichkeit 2002 nicht so stark wie heute vom Virus der Politischen Korrektheit infiziert war, wurde der Trouw-Artikel für van Middelaar zur Stufe auf seiner Karriereleiter, die steil nach oben und immer näher ins Zentrum der ihn als Theoretiker so faszinierenden Macht führte. Von 2002 bis 2004 diente er dem EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein als Assistent und Redenschreiber. Als politischer Sekretär war er anschließend bis 2006 für Jozias van Aartsen, den Parteichef der niederländischen Liberalen tätig. Dort lernte er die „gedämpfte Welt des Binnenhofs“ kennen, wo die Elite Den Haags „in diskreter Übereinkunft ihre Geschäfte abwickelte“. 

Van Aartsens Volkspartei für Freiheit und Demokratie verpaßte der ehrgeizige junge Mann 2005 ein lupenrein neoliberales Parteimanifest, das im Geiste Margaret Thatchers („There is no society“) keine solidarische Gesellschaft jenseits des Existenzkampfes auf „Märkten“ voraussetzte, sondern den Individuen nach der Devise „Jeder gegen jeden und Gott gegen alle“ die alleinige Verantwortung für ihr materielles Wohlergehen aufbürdet, weil sie eben „prinzipiell jedermann“ tragen könne. 

Wohl wegen dieses allzu radikalen Kurses scheiterte van Aartsen, und sein Sekretär hatte Muße, an seiner Dissertation zu arbeiten, mit der er 2009 an der Universität von Amsterdam promovierte. Obwohl erst 2016 unter dem Titel „Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa“ ins Deutsche übersetzt, erntete der Autor dafür im anglo- und frankophonen Raum umgehend Dutzende von lobenden Besprechungen, die „das Wörterbuch der Bewunderung plündern“, wie Perry Anderson über die Reaktionen rückblickend staunt.

Anderson, der an der University of California (Los Angeles) tätige britische Ideenhistoriker, Jahrgang 1938, einer der letzten für den „westlichen Marxismus“ fechtenden Mohikaner, ist selbst von diesem Werk und dem politischen Werdegang Van Middelaars, der von 2009 bis 2017, wiederum als Berater und Redenschreiber, dem Kabinett Herman van Rompuys angehörte, des ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates, derart beeindruckt, daß er sich damit auf nicht weniger als 25 dreispaltig gedruckten Seiten im Zeitungsformat der Zeitschrift Lettre International (132/2021) kritisch auseinandersetzt. 

Geschichte der EU als Abfolge von Staatsstreichen

Am Ende dieses Monster-Essays hat Anderson das bejubelte Opus mitsamt des jüngsten, im Bauch des Brüsseler Leviathan verfaßten Elaborats van Middelaars („Alarums and Excursions“, 2019) fast auf das Niveau eines lakaienhaften Public-Relations-Textes zur Glorifizierung des EU-Superstaats geschrumpft. Der trotzdem verdienstvoll sei. Nicht nur, weil er sich mit glänzendem Stil und analytischer Tiefenschärfe von allen Werken abhebe, die sich bis 2009 an einer Geschichte des europäischen Einigungsprozesses versuchten. Es lege auch die arcana imperii der EU in so unverblümter Weise frei wie nie zuvor in akademischen Behandlungen des Themas.  

Van Middelaar schildert die Entwicklung der EU von der 1950 gegründeten Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der Römischen Verträge (1957) bis zum Vertrag von Maastricht und der Einführung der Einheitswährung (2002) als Abfolge von – Staatsstreichen. An Knotenpunkten seiner Darstellung, frühen wegweisenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes oder der denkwürdigen Mailänder Sitzung des Europäischen Rats, die 1985 die Weichen für die Einheitliche Europäische Akte stellte, um den gemeinsamen Markt von Waren auf Dienstleistungen auszudehnen, verwendet der Autor mit „zwanghafter Insistenz“ das von seiner ungezügelten Begeisterung für eine derartige Technik zeugende Wörtchen „Coup“. 

Über Jahrzehnte hinweg, Schlag auf Schlag, hätten die wichtigsten EU-Institutionen, der Rat, der Gerichtshof, die Kommission und die Zentralbank ihre Macht zu Lasten der Mitgliedsstaaten erobert. Präziser ausgedrückt: erschlichen, denn der coup d’ état erfolgte zwar stets überraschend und plötzlich, doch nie als greller politischer Blitzschlag, vielmehr unauffällig, fast unsichtbar, mit Mitteln, die ein „kleines unbeachtetes Flackern“ entzünden, das oft einen großen Brand verursacht. 

Das EU-Parlament ist nur eine demokratische Fassade

Die Brüsseler Akteure, so orakelt Anderson, scheinen dabei wie schlafwandlerisch Rezepte des Machiavelli an Raffinement weit in den Schatten stellenden, in der politischen Theoriegeschichte jedoch eher stiefmütterlich traktierten atheistischen Barockdenkers und Ratgebers Kardinal Mazarins, Gabriel Naudé (1600–1653), anzuwenden, dessen „Considérations politiques sur le coups d’état“ (1639) erst Friedrich Meinecke wieder ausgrub („Die Idee der Staatsräson“, 1924). 

Der von Meinecke beeinflußte Groninger Geschichtstheoretiker Frank Ankersmit, van Middelaars Lehrer, dürfte seinen Schüler inspiriert haben, die Brüsseler Praktiken durch Naudés Brille zu betrachten. So entdeckt und preist er denn auch, daß Rat und Europäischer Gerichtshof sich in Naudés fundamentaler Herrschaftstugend üben, der Kunst der Geheimhaltung. Denn Entscheidungen werden, ohne Rücksicht auf Moral und das Wohl der Allgemeinheit, unter Ausschluß der verachteten Massen im Konklave getroffen. Hier kehrt die „Regentenmentalität“ der holländischen Kaufmannsrepublik des 17. Jahrhunderts auf europäischer Ebene zurück: in der Regelung aller öffentlichen Angelegenheiten in camera über die Köpf einer passiven Bevölkerung hinweg. 

Nicht verwunderlich, daß Anderson dafür eine jüngere historische Parallele zitiert: die Metternich-Ära. Die politische Kultur der Unionseliten gleiche jener Europas im Restaurationszeitalter zwischen 1815 und 1848, ehe Reformen ein breites Wahlrecht schufen und die Epoche beendeten, in der „Politik als Monopol von Kabinetten, Diplomaten und Spitzenbürokraten galt“. In der EU in ihrer Gestalt als vorgeblich „postmodernes System“ lebe mithin der geistige und institutionelle Habitus des Europas à l’ancien régime fort. Und damit auch dessen Ordnungsprinzip – die Oligarchie. 

Während deutsche Träumer wie Jürgen Habermas noch darauf vertrauen, in dieses perfekt abgedichtete System könnte eine „postnationale Öffentlichkeit“ hineinleuchten, spottet van Middelaar über das zu diesem Zweck 1979 etablierte Forum, das Europäische Parlament, diese „vom Wind der Worte durchtoste Höhle“ (Anderson): Dort versammelten sich nur „die Hofmusiker für die wahren Machthaber der Union“. Und selbst eine solche Fassade ist zu viel des Guten für den Ratspräsidenten van Rompuy, der knackig kurz feststellte: „Ich glaube, die Union ist überdemokratisiert.“

Mittlerweile sind dutzende politikwissenschaftliche und historische Arbeiten erschienen, die sich gründlicher als van Middelaars apologetische Erzeugnisse mit dem Demokratiedefizit, der neoliberalen Wirtschaftspolitik, der nur rudimentären Sozial- sowie der Latifundienbesitzer und industrielle Landwirtschaft fördernden Agrarpolitik oder dem chronischen Versagen der EU-Außen- und Migrationspolitik befassen. Von denen einige, wie die von Anderson referierte Studie Christopher Bickertons („European Integration“, 2012) aufzeigen, wie die Brüsseler Demokratiefeindschaft und die Degradierung von Nationalstaaten zu „Mitgliedstaaten“ Hand in Hand gehen. 

Schon der Begriff Mitgliedstaat drückt für Bickerton eine „grundsätzliche Veränderung in der Struktur des Staates aus, insofern horizontale Bindungen zwischen nationalen Regierungen Vorrang haben zwischen Regierungen und ihren eigenen Gesellschaften“. Diese werden zudem in die Mangel genommen von einer jeder Kontrolle enthobenen Europäischen Zentralbank und dem Europäischen Gerichtshof, dessen gegenwärtiger Präsident postuliert, daß es „schlicht keinen Nukleus nationaler Souveränität gibt“, entstehen Staaten „radikal anderer Natur“, in denen das Volk nicht mehr das aktive Subjekt der Politik sei. Jene Kläger, so gibt sich Anderson belustigt, die diese Auflösung des souveränen Nationalstaats ernsthaft mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, dieser „zahnlosen Körperschaft“, zu stoppen hoffen, verwechseln in mitleiderregender Weise Politik und Recht.