© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Hormonbomben mit demographischer Langzeitwirkung
Vor sechzig Jahren brachte das Pharmaunternehmen Schering die Antibabypille in der Bundesrepublik auf den Markt
Marcel Waschek

Das am 1. Juni 1961 in der Bundesrepublik zugelassene Wundermittel aus den USA versprach Sensationelles. Der sich abzeichnende Geburtenüberschuß der Entwicklungsländer, der außer Kontrolle zu geraten drohte und dies in den folgenden Jahrzehnten auch tat, könne, so versprachen es sich einige Demographen, mit Hilfe des neuen VerhütungsMedikaments gebremst werden. Auch die Frauen in den Industriestaaten, so die Erwartung, sollten nicht länger den Launen der Natur ausgesetzt sein. 

Vorausgegangen waren der Zulassung bis in die 1920er Jahre zurückreichende Forschungen über die Wirkung von hormonellen Präparaten auf die Fortpflanzungsfähigkeit. Ludwig Haberlandt, welcher sich der Erforschung hormoneller Wirkungsmechanismen widmete, konnte erstmals 1919 die Verhinderung einer Eizellreifung durch Hormonzugabe bei Ratten nachweisen. Nach der Entwicklung eines experimentellen Präparates in den 1930er Jahren wurden unter der Leitung von Carl Clauberg ab 1943 im Stammlager Auschwitz unter der Leitung der Schering-Kahlbaum AG Menschenversuche an Insassinnen durchgeführt. 

Starke Nebenwirkungen der Hormonbomben

Seine Forschungsergebnisse wurden von dem aufgrund antisemitischer Verfolgung in die USA emigrierten Carl Djerassi und seinen Kollegen George Rosenkranz und Luis Ernesto Miramontes Cárdenas teilweise genutzt, um 1951 das erste nutzbare Gestagenpräparat herzustellen. 1960 wurde das zuvor ausgiebig an puertoricanischen Frauen getestete, von Gregory Pincus und John Rock entwickelte Mittel mit Unterstützung der Frauenrechtlerin Margaret Sanger auf den Markt gebracht. 

Die für 8,60 Mark erhältlichen Pillen aus der 20 Tabletten umfassenden Packung wurden durch die Schering Pharmawerke (ehemals Schering-Kahlbaum AG) unter dem Namen Anovlar in Westdeutschland vertrieben. Das von Ferdinand Peeters herausgebrachte Medikament galt als zuverlässiger und nebenwirkungsärmer als die amerikanische Hormonbombe Envoid. Ungewollte Schwangerschaften sollten durch die richtige Einnahme des Präparates der Vergangenheit angehören. Dadurch sollte das Leben vieler Frauen planbarer und den Nutzerinnen größere sexuelle Freiheiten ermöglicht werden. In der DDR wurde ein vergleichbares Mittel unter dem Namen Ovosiston erst fünf Jahre später auf den Markt gebracht.

Die herkömmlichen Pillen, sogenannte Kombinationspräparate, bestehen aus zwei unterschiedlichen Hormonen, einem künstlichen Östrogen, das den Follikel mit der Eizelle an der Reifung hindert und einem künstlichen Gestagen, das falls es dennoch zu einem Eisprung kommt, eine Einnistung und damit eine Schwangerschaft verhindert. Darüber hinaus gab es sogenannte Minipillen, die nur aus einem Gestagen bestanden und es in erster Linie indirekt den Spermien erschwerten, die Eizelle zu erreichen. 

Doch unbedenklich war das Medikament nicht, denn die Einnahme der Pille konnte durch die enthaltenen Östrogene zu Thrombosen führen. Weitere Nebenwirkungen der Präparate waren Übelkeit, Erbrechen, Migräne, Depressionen, Gewichtszunahme und Libidoverlust. Zudem gingen die in der Pille enthaltenen Hormone, welche über den Urin ausgeschieden werden, in den Wasserkreislauf über. Dabei werden besonders Amphibien, Fische und Mikroorganismen, aber auch das gesamte Ökosystem geschädigt.

In den Jahren nach der Zulassung nahmen immer mehr Frauen die Möglichkeit auf ein karriereorientiertes Leben fernab einer eigenen Familie wahr. Aber auch für Männer eröffnete sich die Möglichkeit einer unbefangenen Sexualität. Seitensprünge und unverbindliche Sexualkontakte wurden dank des Mittels sehr viel einfacher und risikoärmer. Doch es gab auch Widerspruch gegen die Zulassung des Medikaments. Besonders die Kirchen befürchteten einen Sittenverfall und sahen in der Verwendung eines künstlichen Verhütungsmittels, gerade eines derart wirksamen, einen Frevel. Vor einem moralischenAbstieg der Gesellschaft, besonders junger Frauen, wurde von vielen Kritikern gewarnt. Laut Statista waren 1963 etwa 45 Prozent der Befragten gegen die Legalisierung des in Westdeutschland als Antibabypille bekannten Medikaments, während 43 Prozent aller Befragten dafür waren. Auffallend ist, daß eine Mehrheit der Frauen (47 Prozent) die Pille ablehnte, während eine einfache Mehrheit der Männer (45 Prozent) die Einführung befürwortete. 

Zuerst nur für verheiratete Frauen mit Kindern

Vielfach wurde das Medikament bis zum Ende des Jahrzehnts nur als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden verschrieben. Dies allerdings nur bei verheirateten Frauen, welche über 30 waren und mindestens drei Kinder hatten. Jedoch gaben nur wenige Ärzte das Mittel überhaupt aus. Die Tendenz hin zu liberaleren Verschreibungen stieg im Laufe der 1960er Jahre an. 1976 erreichte mit einem Anteil von 32,8 Prozent an der weiblichen Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik die Nutzung der Pille ihren Höhepunkt. Seit einigen Jahren ist die Anzahl der Pillennutzerinnen zugunsten anderer Verhütungsmittel kontinuierlich gesunken.

Die Auswirkungen des Medikamentes auf die Bevölkerungsentwicklung sind umstritten. Zwar ist in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ein Abfall der Geburtenrate deutlich zu erkennen. Doch die meisten Demographen sehen die Ursache hierfür auch darin, daß nach den geburtenstarken Jahrgängen der 1930er Jahre, welche zwischen 1955 und 1965 selbst Kinder bekamen, ab Mitte der sechziger Jahre die geburtenschwächere Kriegskindergeneration folgte. Gegen die als Pillenknick bekannte These spricht auch, daß die Entwicklung der Geburtenrate in der DDR früher rückläufig war als im Westen, obwohl das in Mitteldeutschland als „Wunschkindpille“ bezeichnete Mittel erst später verfügbar war. Entscheidender dürfte zudem erst ein hedonistischerer Lebensstil als Folge der 68-Bewegung gewesen sein, in dem die Pille letztlich nur Mittel zum Zweck war und die Geburtenzahlen ab etwa 1972 weiter abstürzen ließ.

Foto: Verhütung mit der Anti-Babypille: 1963 lehnte eine Mehrheit der Frauen die Pille ab