© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/21 / 28. Mai 2021

Hinaus in die Außenbereiche
Gegen die Brandmarkung von „Stammtischparolen“: Auch Linke frönen der feucht-fröhlichen Runden
Gil Barkei

Schon vor den Corona-Einschränkungen wurde so mancher Tanz um den Zapfhahn madig gemacht, wenn er mit der falschen „Haltung“ stattfand. Wenn Freunde am Tresen eine Idee haben, daraufhin anfangen zu tüfteln, zu erfinden und ein Unternehmen gründen – je radikaler, desto „mutiger“ – dann ist das trendy und visionär. Das sind Pioniere, Schaffende, Weltveränderer, wenn nicht sogar Weltverbesserer. 

Wenn man sich aber mit seinen Freunden beim Bier über Politik und die Gesellschaft unterhält, etwas verändern will und dabei nicht dem allgemein geläufigen Meinungs-Mainstream folgt, werden schnell die Stempel „uncool“, „provinziell“ und irgendwie „dümmlich“ hervorgeholt. Diese Leute sind ungebildete Radikale, stumpfe rückwärtsgewandte Verlierer. Sobald rechtskonservative Ziele oder deutsche Interessen über den Gläsern hinweg artikuliert werden, handelt es sich um einen dumpfen Stammtisch in einer biertriefenden Kaschemme, in deren schwerer rauchiger Luft böse Deutschtümelei liegt. Allzu schnell werden solche Treffen abschätzig kleingeredet und diffamiert: Die haben gar nicht die Expertise und den tieferen Ein- und Überblick bei der Materie. Diese ahnungslosen Amateure sollen sich lieber nicht einmischen. So haben auch arrogante Generäle vergangener Kriege gedacht, für die der kleine Soldat in seinem begrenzten Abschnitt ja schließlich nicht die Sicht auf die Gesamtlage haben konnte.

Die Negativbesetzung des Wortes „Stammtisch“ ist jedoch nichts weiter als der Versuch, unliebsames bürgerliches Engagement zu sabotieren. Geht es um Gespräche und Vorschläge, welche in das Konzept der Mächtigen passen, ist von Philosophencafés, Kultur- und Freiräumen sowie von Aktivisten und ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement die Rede. Bei regierungskritischen Ansätzen und Äußerungen fällt dagegen kurzerhand das abfällige Urteil „Stammtischparolen“ als Einstiegs-Tool einer semantischen Werkzeugkiste, in der neben der „Verschwörungstheoretiker“-Zange der Vorschlaghammer für alle Fälle, die „Nazi“-Keule liegt.

Allerdings ist eben das Besprechen von gesellschaftspolitischen Fragen im kleinen privaten Kreis unter Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn oder Vereinsbrüdern eine der Grundlagen des politisch interessierten und informierten Bürgerdaseins – und nebenbei fester Bestandteil der Basisarbeit jeder Partei. Viele Ortsverbände der Parteien treffen sich in Gaststätten oder Restaurants. Den Stammtisch zu verklären, bedeutet daher auch, den eigenen Graswurzeln zuzurufen: „Haltet die Klappe!“

Marx und Engels auf Kneipentour in London

Dabei ist der ethanolschwangere Austausch in einer Gastronomie bei Linken genauso ein Klassiker wie bei Konservativen und Rechten. Der Bund der Kommunisten in Köln traf sich im „Café Royal“. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), der Vorläufer der SPD, wurde 1863 in der Leipziger Gastwirtschaft „Pantheon“ gegründet, in der bereits 15 Jahre zuvor der Verein der Dienstmädchen als erste Berufsorganisation für Frauen in der Stadt ins Leben gerufen wurde.

Die Internationale Arbeiterassoziation, die „Erste Internationale“, kam zu ihrem fünften Kongreß in Den Haag im „Café Schryver“ zusammen. Und Karl Marx und Friedrich Engels selbst zogen in London durch die Kneipen, sogar mit trinksportlichem Anspruch: Mindestens ein Pint in jedem Pub zwischen Oxford Street und Marx’ Wohnort Hampstead lautete einmal die eigene Vorgabe. Zu Picknicks im Grünen holten sie sich gern ein Bier im Pub „Jack Straw’s Castle“, das es immer noch gibt – Jack Straw seines Zeichens führte 1381 den englischen Bauernaufstand mit an und soll sich in der Gegend damals versteckt haben.

Auch die Proteste am 17. Juni 1953 in der DDR gehen auf eine Biergartenrunde zurück: Vier Tage zuvor diskutierten die Bauarbeiter des Krankenhauses Friedrichshain bei einer Bootsfahrt zum Müggelsee im Garten der Gaststätte „Rübezahl“ die von der SED beschlossenen Normerhöhungen und entschlossen sich zum Streik.

Da frohlocken die kürzlich wieder eröffneten Außenbereiche der Schenken in mehreren Städten doch gleich noch mehr – und einen (regelmäßigen) Besuch sollte man sich nicht vermiesen lassen.