© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Fataler Gewöhnungseffekt
Trotz rückläufiger Corona-Zahlen will die Regierung Grundrechtseinschränkungen weiter gelten lassen
Michael Paulwitz

Während ringsum die Europäer den Weg aus dem Stillstand suchen und in den meisten US-Bundesstaaten Lockdown und Maskenpflicht längst Geschichte sind, starrt die deutsche Öffentlichkeit unter etablierter Medienanleitung weiter gebannt auf die tägliche Ziehung der Fall- und „Inzidenz“-Zahlen, bindet sich brav für Milliardensummen aus Asien importierte Masken und Trichterfilter vor Mund und Nase und steht geduldig Schlange vor aus dem Boden wuchernden Teststationen.

Gleichwohl sinken die Zahlen, schon allein jahreszeitbedingt, auch wenn die Herrscher über die Statistiken weiter nicht verifizierte Positiv-Testungen mit „Infektionen“ und „Erkrankungen“ in einen Topf werfen. Läden, Gast- und Hotelbetriebe dürfen zwar zaghaft wieder öffnen, freilich mit Auflagen, die das Betreten eines Biergartens mit hohem bürokratischem Aufwand beladen. Bedenkenträger verbreiten weiter Durchhalteparolen und Panikstimmung, raunen von bedrohlichen neuen „Mutanten“, drängen zum allgemeinen Impfen und warnen, jetzt nur ja „das Erreichte“ nicht zu gefährden.

„Erreicht“ haben die Maßnahmen der Bundesregierung, die den evaluierenden Vergleich mit alternativen Lösungsansätzen jenseits des Tellerrands scheut, unter anderem enorme volkswirtschaftliche Schäden, zerstörte Existenzen, psychische Deformationen und kaum noch aufholbare Bildungsrückstände bei einer ganzen Schülergeneration. Wenigstens bis zur Bundestagswahl möchten die Verantwortlichen darüber nicht reden müssen.

Wohl auch deswegen hatte die Kanzlerin mit dem Gedanken gespielt, nicht nur die Ausrufung der „epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“, sondern auch den als „Bundes-Notbremse“ verharmlosten De-facto-Ausnahmezustand, der im Gesetz bis 30. Juni befristet ist, um ein weiteres Vierteljahr zu verlängern. Dabei ist über die Vereinbarkeit des Lockdown-Automatismus nach Paragraph 28b Infektionsschutzgesetz mit dem Grundgesetz noch gar nicht abschließend entschieden; das Bundesverfassungsgericht, präsidiert von einem CDU-Funktionär, sitzt zum Ärger vieler Kläger die Entscheidung über die zahlreichen Verfassungsbeschwerden aus.

Mit Pandemiebekämpfung hatte diese Notstandsgesetzgebung durch die Hintertüre des Infektionsschutzes nur noch dem Etikett nach zu tun. Die damit verbundenen schwersten Grundrechtseingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik markieren den vorläufigen Höhepunkt eines Durchregierens im unerklärten Ausnahmezustand. Von der Verfassung garantierte Grundrechte sind in der Wahrnehmung vieler Bürger zu gnadenhalber gewährten oder durch Wohlverhalten zu verdienenden „Privilegien“ geworden – ein fataler Gewöhnungseffekt, der Staats- und Verfassungsrechtlern zunehmend Sorgenschweiß auf die Stirne treibt.

Derweil mehren sich wissenschaftliche Studien aus dem In- und Ausland, die Sinn- und Wirkungslosigkeit von Lockdowns, Ausgangssperren, Maskenzwang und anderen repressiven Maßnahmen für das vorgebliche Ziel der Eindämmung des Infektionsgeschehens nachweisen. Die Maßnahmen-Politiker beeindruckt auch das wenig: Zu verlockend die Aussicht, durch Aufrechterhalten einer Grundstimmung von Ansteckungsfurcht und Seuchenpanik eine offene Debatte über eigene Fehler und Regierungsversagen zu vermeiden.

Demselben Zweck dient offenkundig, abgesehen von Lobbyinteressen an diesem Milliardengeschäft, die Forcierung der Impfkampagne. Obwohl die verstolperte Impfstoffbeschaffung noch immer für Engpässe sorgt, wollen Regierungsvertreter und Scharfmacher wie der SPD-Lautsprecher Karl Lauterbach die Kampagne sogar gegen Bedenken der Ständigen Impfkommission auch auf Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ausdehnen.

Eine offene Impfpflicht wäre ein massiver Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und mit der Verfassung kaum zu vereinbaren. Der „Impfgipfel“ von Kanzlerin und Ministerpräsidenten weist eine solche Absicht scheinheilig weit von sich, betreibt aber zugleich indirekte Impfnötigung durch sozialen Druck auf Eltern und Ärzte.

Da das Risiko für schwere Krankheitsverläufe in dieser Altersgruppe, vom Ausnahmefall schwerer Vorschädigungen abgesehen, gegen Null tendiert, werden durch die Verknüpfung mit der Frage der Rückkehr zum regulären Schulbetrieb faktisch Minderjährige und junge Erwachsene als Experimentierobjekt eingesetzt für die Erprobung eines in der Breite noch nie eingesetzten und in möglichen Langzeitschäden noch unerforschten medizinischen Verfahrens.

Der Aufrechterhaltung des sozialen Impfdrucks dient nicht zuletzt der flächendeckende Zwang zu ebenfalls in die körperliche Unversehrtheit eingreifenden Corona-„Schnelltests“ als Zugangsvoraussetzung zu weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die Bürger werden damit vor die fragwürdige Alternative Impfen oder Testen gestellt. Der massive Abrechnungsbetrug bei der hastig aufgebauten Test-Infrastruktur ist kein Betriebsunfall, ebensowenig wie die zahlreichen Fälle von Provisionsbereicherung bei Masken-Geschäften. Wo öffentliches Geld mit vollen Händen verteilt wird, folgen Fehlallokationen unweigerlich auf dem Fuße.

Am Horizont zieht unterdessen der „Klima-Lockdown“ herauf. Die Corona-Politik hat die Bürger auf das nächste Bedrohungsszenario vorbereitet, das als Vorwand für noch weiter reichende Freiheits- und Konsumeinschränkungen herhalten soll. Unserem Land droht das Abgleiten in Autoritarismus und gelenkte Kommandowirtschaft auf den Trümmern des Mittelstands. Statt um sich selbst drehender Corona-Diskurse braucht Deutschland dringend eine Debatte über die Verteidigung der Freiheit und der Grundlagen des Rechtsstaats.