© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

„Verloren im virtuellen Raum“
Am 11. Juni beginnt die Fußball-EM. Kulminiert in der „Euro 2020“ die Krise des deutschen Lieblingssports zwischen Corona, Kommerz und Politisierung? Fragen an Christoph Bertling, Experte an der Deutschen Sporthochschule
Moritz Schwarz

Herr Dr. Bertling, bald ist es soweit! Wo aber bleibt der „totale Fußballwahnsinn“?

Christoph Bertling: Den wird es diesmal ziemlich sicher nicht geben.

Gilt ab 11. Juni „Stell dir vor, es ist Europameisterschaft und keiner geht hin“?

Christoph Bertling: „Keiner“ ist übertrieben, aber natürlich ist die Lage schon absurd – so absurd eben, wie die Zeiten angesichts von Corona nun mal sind. 

Fußball ohne Gefühle – was bitte soll das?

Bertling: Berechtigte Frage. Wir wissen, daß Fußball ein „soziales Lagerfeuer“ ist. Umfragen zeigen, daß sich nur die Hälfte der Leute tatsächlich für die Spiele interessiert. Doch wenn die Nationalmannschaft das Achtel- oder Viertelfinale erreicht, entwickeln sich Europa- und Weltmeisterschaften in der Regel zum gesellschaftlichen „Hype“.

Was erwarten Sie für die EM konkret?

Bertling: Sie wird ziemlich sicher kein Fußballfest, wie wir es bisher kennen, sondern sehr wahrscheinlich im Vergleich eine recht einsame Veranstaltung. Auch wenn ein Teil der Fans in die Stadien gelassen wird, wird alles noch unter dem Eindruck von Corona stehen sowie der Frage: Muß das denn schon sein, ist eine EM tatsächlich so wichtig?

Hätte man sie also – es handelt sich ja um die auf dieses Jahr verschobene „Euro 2020“ – nun erneut verschieben müssen? 

Bertling: Meines Erachtens hätte die Uefa ganz anders kommunizieren müssen. Etwa: „Wir wollen, daß es ein großes Fußballfest wird! Da das wegen Corona nicht geht, verschieben wir nochmals, um die EM als das erste große Gemeinschaftserlebnis nach der Pandemie zu feiern. Wir verschieben also für die Fans.“ Was dagegen gar nicht in Ordnung war, ist die Forderung der Uefa, Zuschauer zu den einzelnen Veranstaltungen zuzulassen. Und zwar zu Zeiten, als die Inzidenzzahlen hoch waren. 

Sehen Sie keine Argumente dafür, die EM jetzt stattfinden zu lassen?

Bertling: Doch, etwa weil sie den Menschen eine gewisse Ablenkung verschafft und damit ihr Leben gefühlt etwas normalisiert. Und tatsächlich ist Fußball ja längst nicht mehr nur ein Live-, sondern auch ein virtuelles Produkt.

Ein „virtuelles Produkt“? 

Bertling: Das meint, daß die Leute sich Fußball nicht mehr nur gemeinschaftlich live ansehen, sondern durchaus auch allein zu Hause. Wenn man die Leute befragt, sagt die Mehrheit der Interessierten deutlich: Lieber Fußball zu Hause auf dem Sofa als gar nicht!

Dann ist es also doch richtig, die EM jetzt zu veranstalten?

Bertling: Nun, ich vermute, daß die Idee einer „EM zu Hause“ nicht aufgehen wird. Sie wird sich wohl im virtuellen Raum verlieren. Das Problem ist, daß vielfach nicht verstanden wird, daß beim Fußball die eigentlichen Ereignisse nicht im Stadion stattfinden.

Wie bitte? Wo denn dann?

Bertling: Im öffentlichen Raum. Sicher, in den Stadien finden die Spiele statt, aber nicht das Fußballfest. Das ereignet sich auf Plätzen, in Straßen, Kneipen und Nachbarschaften. Natürlich spielen die Stadien, vor allem die Stimmung dort, auch eine Rolle. Doch zu glauben, den öffentlichen Raum auslassen zu können, eine EM nur auf Spiele und den virtuellen Raum zu stützen ... Nun, diese EM wird wohl am Ende stärker in der Kritik stehen als jede andere zuvor. 

Dann hat sich die Uefa verkalkuliert?

Bertling: Das kommt auf die Perspektive an: Schließlich gibt es bei der Frage „Verschieben oder nicht?“ noch andere Gesichtspunkte, etwa ökonomische: Viele vergessen, daß es um erhebliche Summen an Schadensersatz gehen kann, wenn ein Spiel abgesagt wird. 

Also siegt mal wieder der Kommerz und macht den Fußball kaputt?

Bertling: Ganz so einfach ist es nicht. Auch die EM jetzt durchzuführen birgt wirtschaftliche Gefahren. Sollte sie, weil Corona auf die Stimmung drückt, an den Fernsehgeräten zum Zuschauerflop werden, könnte das für die Uefa ebenfalls finanziell heikel werden. 

Allerdings: War der Fußball nicht schon vor Corona in der Krise? 

Bertling: Kommt darauf an, was Sie meinen. 

Etwa ein schwindendes Publikumsinteresse.

Bertling: Nein, einen Beleg für ein grundsätzlich – also jenseits von Corona – schwindendes Interesse am Fußball geben die Zahlen nicht her. Sicher gibt es Verschiebungen, doch total sind Reichweite des Fußballs und Begeisterung des Publikums nach wie vor sehr hoch. 

Woher wissen Sie das angesichts des derzeitigen Stimmungstiefs?

Bertling: Die vergangenen Turniere hatten die höchsten Einschaltquoten überhaupt. Es gibt also kein Anzeichen dafür, daß das Corona-Tief über die Pandemie hinaus anhalten wird. Wir gehen davon aus, daß sich die Fußballbegeisterung danach wieder erholen wird. 

Aber was ist mit dem Problem der Kommerzialisierung und damit dem Verlust der Authentizität des Fußballs? Laugt diese Entwicklung ihn nicht immer mehr aus?

Bertling: Das beklagen Fans ja schon lange. Allerdings muß man verstehen, daß sich natürlich auch der Fußball verändert. Wie gesagt ist er inzwischen auch ein virtuelles und damit globales Produkt und weit weniger ein lokales, wie er es früher vor allem war. Daraus folgt, daß natürlich viel mehr auf Lizensierungen geachtet wird, also auf Verwertungsrechte. Denn das Ticketing, also der Verkauf von Eintrittskarten an Stadionbesucher, macht bei einer EM nur noch etwa ein Viertel des Umsatzes aus. Und in den Ligen, etwa der Premier League, ist es noch weniger. Es gibt da also eine ökonomische Verschiebung, die natürlich auch Folgen für den Fußball vor Ort hat, weil nun viel mehr auf dessen, für die Lizenzeinnahmen wichtige mediale Inszenierung gesetzt wird. Und die Veranstaltungsorte profitieren weniger als früher. Heute kommt der Fußball eher wie ein aus heiterem Himmel landendes Ufo über den Austragungsort, das nach dem Turnier wieder entschwindet. Während er früher weit stärker aus der Region kam, in der er stattfand.  

Das paßt ja zum neuen Konzept, die EM nicht mehr in einem Gastgeberland, sondern in elf Städten, darunter München, quer durch Europa – und mit Baku sogar in Asien – stattfinden zu lassen. Befördert das aber andererseits nicht gerade die Entwicklung, die die Fans so sehr kritisieren?

Bertling: Ja, schon. Allerdings, wenn man als Uefa den Anspruch hat, eine europäische Idee zu verkörpern, dann ergibt das neue Konzept Sinn und stellt eine logische Weiterentwicklung dar. 

Eine Entwicklung weg von den Fans – die jetzt nicht mehr in ein Land fahren und dann dort bleiben, sondern ständig auf Achse sein, den Spielen quer durch Europa nachreisen müssen. Was weder sozial – viele Fans verfügen nur über schwache Einkommen – noch ökologisch und auch nicht gut für die Stimmung ist.

Bertling: Das stimmt, letzteres habe ich selbst etwa bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 erlebt, wo ich wegen der Größe des Landes und der Entfernung der Austragungsorte ständig auf Reisen war, so daß ich gar keine Lust mehr auf die Wettkämpfe hatte. Und natürlich hatte auch das bisherige EM-Konzept, daß man jeweils in einem Land zu Gast ist, das sich dann präsentieren kann, etwas für sich. Doch gilt das ebenso für das neue Konzept – ohne daß ich sage, dieses hätte nicht auch Nachteile. Aber für das Neue spricht etwa, daß das schon genannte „Ufo“ im Lauf der Zeit immer größer geworden ist und infolgedessen auch die Kosten, die es an den Austragungsorten verursacht. So daß es immer schwieriger wurde, daß sich ein Land eine EM auch leisten kann. Mit der Verteilung auf elf Städte quer durch Europa werden die Kosten besser aufgeteilt. Es handelt sich also um einen Paradigmenwechsel, und es wird sich zeigen, ob er sich bewährt.

Zu den Entwicklungen, die – wie die Kommerzialisierung – den Fußball zu überlagern drohen, gehört nach Ansicht von Kritikern auch die Politisierung.  

Bertling: Daß Politik eine Rolle spielt, ist unbestritten. Doch das Wort „Politisierung“ ist schwierig. Es impliziert, der Faktor Politik sei bereits zu stark vertreten.  

Sie würden dem widersprechen?  

Bertling: Man kann das schon so sehen. In der Kommunikationswissenschaft haben wir dafür auch einen Fachbegriff: „Agenda-Surfing“, also das „Reiten“ einer politischen Agenda „auf“ dem Sport, wie der Surfer auf der Welle. Ich persönlich würde aber sagen, solange es nicht um Parteipolitik, sondern um Werte geht, wie Toleranz, Frieden, Völkerverständigung, Respekt vor Kulturen, ist das legitim. Da der Fußball gesellschaftliche Verantwortung übernehmen muß und nicht wie ein rosa Wölkchen abgehoben über der Gesellschaft schweben kann. 

Es geht nicht um diese allgemeinen, sondern um die viel konkreteren politischen Anliegen, für die der Fußball eingespannt wird. Dabei gilt die Politisierung des Sports doch als typisches Merkmal totalitärer Systeme.

Bertling: Natürlich haben totalitäre Staaten – wie die DDR, Stichwort Diplomatie in Trainingsanzügen – den Sport stark für sich benutzt. Allerdings irren Sie mit Ihrer Interpretation, daß der Sport deshalb unpolitisch sein muß. 

Wo ziehen Sie denn da die Grenze?

Bertling: Nun, wenn man argumentiert, der Fußball habe eine soziale Verantwortung, was Sie im Grunde ja weiter oben vertreten, dann hat er doch ebenso eine gesellschaftliche. Aber es ist ein Unterschied, ob er dem Machtanspruch totalitärer Regime dient oder ob Sport einfach offen ist statt abgekapselt von der Gesellschaft, offen für gesellschaftliche Diskurse und Meinungsfreiheit. 

Wo sind etwa beim rituellen Knien vor dem Spiel Diskurs und Meinungsfreiheit? Wirkt das nicht eher doktrinär und verordnet?

Bertling: Nein. Denken Sie bitte an den farbigen US-Footballspieler Colin Kaepernick, der 2016 in freier Entscheidung, quasi allein damit begann, zunächst sich während der amerikanischen Hymne nicht zu erheben, später zum Niederknien überging, um gegen Rassismus zu protestieren. Immer mehr Spieler solidarisierten sich mit ihm, weil sie etwas ausdrücken wollten. Nämlich daß ihnen die politischen Verhältnisse nicht egal sind, sie nicht wegschauen, nicht nur ihre Karriere im Blick haben, sondern dazu bereit sind, Nachteile in Kauf zunehmen, um etwas zu verändern.

Das ist zwar ein passendes Beispiel für Ihre Definition. Hat aber doch längst nichts mehr mit dem Gegen-Rassismus-Knien etwa im englischen Fußball zu tun, das obligatorisch und nicht mehr individuell ist.

Bertling: Es mag sein, daß es auch einen „Bandwagon-Effekt“ gibt. Der Begriff meint, daß alle hinter dem Wagen mit der Blasmusik herlaufen, sprich das Gleiche tun. Aber man kann den Spielern doch nicht absprechen, daß sich jeder für sich nochmals selbst dafür entschieden hat. 

Ist es nicht ziemlich unrealistisch anzunehmen daß sich sämtliche englischen Profis 2020 gleichzeitig individuell entschlossen haben, vor jedem Spiel niederzuknien?

Bertling: Es mag Sogwirkungen geben, ja. Doch könnte man auch argumentieren, viele von ihnen haben diese Haltung schon längst gehabt, trauten sich vor dem Tod George Floyds nur nicht, sie auf diese Art offen zu demonstrieren. 

Sie haben Kaepernick zu Recht gelobt, weil er seine Karriere für seine Überzeugung riskierte. Im englischen Fußball steht das Knien aber doch für das Gegenteil: Seine Karriere riskiert, wer sich weigert zu knien.

Bertling: Wie gesagt, natürlich kann da auch Konformismus drinstecken, weil es immer auch Leute gibt, die auf einen Zug aufspringen. Aber der Ursprung war ein freier, selbstbestimmter Akt im Dienste einer guten Sache. 

Soll also künftig jeder Sportler vor dem Spiel seine politische Anliegen demonstrieren können? Was ist mit gegenteiligen Botschaften, etwa einer will für, sein Mannschaftskamerad gegen Zuwanderung ein Zeichen setzen? Und gibt es nicht inflationär viele Mißstände, gegen die gekniet werden müßte?

Bertling: Das ist in der Tat eine sehr schwierige und wichtige Frage. Denn es spielen verschiedene Faktoren hinein: ökonomische Interessen, die Interessen der Verbände und natürlich das Interesse der Zuschauer, daß der Fußball nicht völlig überlagert wird, der ihnen ja zur Unterhaltung und Erholung dienen soll. Gleichzeitig aber muß es Raum für die Meinungsfreiheit der Sportler geben und die Möglichkeit, sich auszudrücken. Abschließend beantworten kann ich die Frage daher nicht. Vielmehr wird das wohl jedesmal neu in individuellen Aushandlungsprozessen geklärt werden müssen. 






Dr. Christoph Bertling, ist Kommunikations- und Diplom-Sportwissenschaftler an der Deutschen Sporthochschule in Köln sowie der State University of New York in Cortland. Er schrieb unter anderem für die FAZ, Süddeutsche Zeitung, Financial Times und Spiegel Online. Geboren wurde er 1974 in Würzburg.

Foto: Nationalspieler Leon Goretzka (l.), Serge Gnabry (M.), Lukas Klostermann (r.) beim siegreichen EM-Qualifikationsspiel gegen Weißrußland in Mönchengladbach, November 2019: „Ich vermute, daß die Idee einer ‘EM zu Hause‘ nicht aufgehen wird ... Am Ende wird die Euro 2020 wohl stärker in der Kritik stehen als jede andere Europameisterschaft zuvor“