© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Die verlorene Identität
Vor der verschobenen Fußball-EM 2020 will sich keine Zuneigung einstellen: Woran das liegen kann, haben wir hier aufgeschrieben
Ronald Bberthold

Das Sommermärchen liegt 15 Jahre zurück. Die Menschen zeigten sich zur Weltmeisterschaft 2006 in Schwarz-Rot-Gold. Überall Deutschland-Fähnchen – an den Autos, den Fensterbrettern, im Vorgarten. Auch bei den Turnieren danach erfreuten sich die Deutschen am gleichen Bild der Zusammengehörigkeit. 2014 wurde nicht nur die Nationalmannschaft Weltmeister. Der Titel gehörte uns allen.

Doch diese Begeisterung, die das Land einte, dieser auch zuletzt noch erlaubte Fußball-Patriotismus will sich nicht mehr einstellen. Kurz vor der Europameisterschaft schauen viele Deutsche gleichgültig und teils sogar ablehnend auf die Nationalmannschaft, die das „National“ gestrichen hat und nun nur noch „Die Mannschaft“ heißt.

Konsequenz: Als noch Publikum erlaubt war, fiel es dem DFB schwer, die Stadien voll zu bekommen, obwohl der Verband schon in kleine Arenen ausgewichen war. Die Einschaltquoten sanken von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Trotz der Corona-Maßnahmen, die die Menschen abends ins heimische Wohnzimmer zwangen, schauten teilweise nur noch etwas mehr als fünf Millionen zu. In den Bundesliga-Stadien vereinten sich die gegnerischen Kurven hinter dem Schlachtruf „Scheiß DFB“.

Nun steht die Europameisterschaft an, die erstmals in vielen Ländern ausgetragen wird. Die Vorfreude auf das Turnier fehlt, die Identifikation der Deutschen mit ihrem liebsten Kind ist kaputtgegangen. Woran liegt das?





Die Özil-Affäre

Der Bruch begann im Vorfeld des vergangenen Turniers. Zur Weltmeisterschaft 2018 in Rußland reiste der DFB mit zwei Spielern, die kurz zuvor dem Machthaber eines anderen Landes ihre Loyalität gezeigt hatten. Hängengeblieben ist die Affäre um Mesut Özil, der sich nicht von seinen Bildern mit dem türkischen Präsidenten distanzieren wollte. Noch schlimmer jedoch war das Verhalten İlkay Gündoğans, der Erdoğan sogar ein Trikot mit der Widmung „mein Präsident“ schenkte. Die Fans waren empört. Bei den Vorbereitungsspielen kniff Özil; Gündoğan wurde bei jeder Ballberührung ausgepfiffen. Doch der DFB sah von Sanktionen ab. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfing die beiden medienwirksam im Schloß Bellevue und gab seinen Segen. Özil und Gündoğan durften für Deutschland, das sie offenbar nicht als ihr Heimatland betrachteten, bei der WM auflaufen. Dort weigerten sich einige, die Nationalhymne mitzusingen. 

Fehlende Identifikation der Spieler mit dem Land verursacht fehlende Identifikation der Deutschen mit der Mannschaft. Özil trat nach der WM von selbst zurück und erhob Rassismus-Vorwürfe. Angela Merkel – völlig ungewöhnlich für eine Bundeskanzlerin – würdigte daraufhin die Verdienste Özils. Die Fans hatten sich dagegen eine scharfe Reaktion gegen die klassische Täter-Opfer-Umkehr gewünscht. Doch statt dessen wirft sich Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff noch heute in den Staub. Bundestrainer Löw ernannte Gündoğan zeitweise gar zum Kapitän.





Die WM 2018

Mit Özil und Gündoğan blamierte sich der amtierende Weltmeister in Rußland bis auf die Knochen. Als Vorrunden-Letzter schied Deutschland aus. Im Zuge einer aus der Politik bekannten Wirklichkeitsverweigerung verneinten danach alle Verantwortlichen, daß die Affäre um die türkischstämmigen Spieler beim schlechtesten Abschneiden aller Zeiten eine Rolle gespielt hätte. Aber nachher kam heraus, daß die ethnischen Deutschen in der Mannschaft als „Kartoffeln“ bezeichnet werden. Grüppchenbildung zwischen den Migranten und den anderen soll den Teamgeist zerstört haben. Jetzt wandten sich auch die Anhänger, die sich trotz der Erdoğan-Geschichte nicht den Spaß am Turnier hatten nehmen lassen wollen, mit Grausen ab.





Der Bundestrainer

Wie die politische Klasse gehört der Bundestrainer zur Fraktion der Niemals-Zurücktreter. Weder das peinliche Vorrunden-Aus in Rußland noch die historische 0:6-Niederlage gegen Spanien im Herbst 2020 konnten Jogi Löw etwas anhaben. Im Gegenteil: Rücktrittsforderungen gelten wie im Fall Angela Merkel als Majestätsbeleidigung, ja beinahe als verwerflich. Der Bundestrainer – für die Grünen zuletzt Mitglied der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt – hat es geschafft, ein Klima zu erzeugen, in dem auch berechtigte Kritik auf den Kritiker und nicht auf ihn zurückfällt. Während die verbliebenen Fans nach der 1:2-Niederlage im WM-Qualifikationsspiel gegen Fußballzwerg Nordmazedonien vor zwei Monaten kochten, faßten die Reporter Löw weiter mit Samthandschuhen an. Der Trainer ist die Angela Merkel des Fußballs. Für nach der EM hat er nun doch seinen Abgang angekündigt; Hansi Flick, der schon DFB-Ko-Trainer war, wird übernehmen. 





Die Aufstellung

Statt der Besten spielten zuletzt zunehmend Bankdrücker für Deutschland. Da ist zum Beispiel Antonio Rüdiger, der beim FC Chelsea – wie andere Nationalspieler in ihren Vereinen – nur Reservist war. Nach Özil und Gündoğan war er der nächste, der außerhalb des Platzes für Verstörung sorgte. Er „likte“ im November 2020 den gewaltverherrlichenden Post eines Islamisten, als es um den Terror in Frankreich ging. Konsequenzen: keine. Wenige Tage später stand er in der Startelf gegen die Ukraine. Rüdigers Erklärung: Er sei „gegen Rassismus“ – und schon war alles gut. Verbannt hat Löw dagegen für zwei Jahre die Spitzenspieler Thomas Müller und Mats Hummels. Erst jetzt zur EM holt er sie wieder in den Kader. Offenbar sitzt Löw das Hemd näher als die Hose. Die beiden sollen helfen, daß seine 15jährige Ära nicht mit einem erneuten Vorrunden-Aus endet. Das durchschaubare Manöver kann die Stimmung nicht drehen.





Die Politisierung

Schon 2006 mußte der damalige Kapitän Philipp Lahm vor dem Anpfiff vorgefertigte Erklärungen gegen Rassismus verlesen. Die Auftritte erinnern an Schulveranstaltungen in der DDR, bei denen der FDJ-Agitator die Losungen der Parteiführung vortragen mußte. Die DFB-Verantwortlichen haben die Nationalmannschaft zunehmend zu einem Instrument im Kampf für politische Erziehung geformt. Für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin folgte in den Bundesligastadien eine „Refugees welcome“-Kampagne auf den Trikots der Spieler. Heute sind sogar der menschengemachte Klimawandel und die Corona-Politik der Regierung Themen, hinter denen sich der DFB versammelt. Löw bezeichnete das Virus als Gegenschlag der Erde gegen die Menschen, als er über die Verschiebung der EM von 2020 in diesen Sommer sprach. Kürzlich folgte die Kampagne „Fußball kann mehr“, die im Rahmen der Gender-Mode eine Frauenquote von 30 Prozent fordert – noch nicht auf dem Rasen, so aber in den Ämtern des DFB.





Das antinationale Marketing

Die Nähe Angela Merkels zur Nationalmannschaft ist bekannt. Von ihrem damaligen Ruhm wollte die Kanzlerin profitieren, umarmte für die Fotografen den oberkörperfreien Özil in der Kabine, den sie auch mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnete. Aber wichtig war ihr auch, daß sich die DFB-Elf in ihrem Geiste präsentiert. Daß sie 2015 mit der Flüchtlingskrise den Anstoß für die Umbenennung in „Die Mannschaft“ gab, ist nicht belegt. Das Gerücht hält sich aber hartnäckig. Seit sechs Jahren ist die „Nationalmannschaft“ damit offiziell Geschichte. Gleichzeitig ließ DFB-Manager Oliver Bierhoff Schwarz-Rot-Gold von den Trikots tilgen. Die Farben wurden in Schwarz-Grau-Hellgrau geändert.

Die Proteste der Fans blieben ungehört. Die Truppe entfernte sich weiter von ihrer Anhängerschaft. Zur EM laufen die Spieler nun mit einem dicken schwarzen und roten Streifen am Ärmel auf. Beinahe unsichtbar folgt eine goldene Naht. Die Kombination sieht auf den ersten Blick nicht aus wie eine Deutschland-, sondern wie eine Antifa-Fahne. Zufall?

Mittelfeldspieler Leon Goretzka jedenfalls posierte kürzlich im Magazin des Staatskonzerns Deutsche Bahn DB mobil mit DFB-Trikot und diversen Antifa-Devotionalien. Einmal schwenkt er eine „Gegen Nazis“-Fahne, dann trägt er einen großen „Kein Fußball den Faschisten“-Sticker, und ein weiteres Mal hält er ein Banner mit derselben Losung hoch. Ein Nationalspieler als politisch korrekte Litfaßsäule.





Politische Maßregelungen

Rund um den Fußball ist nicht nur, aber auch durch die Politisierung des DFB ein Klima entstanden, das dem Leitbild des Verbandes von „Vielfalt“ und „Toleranz“ widerspricht. Die Freiheit der Kurven, in denen auch mal über die Stränge geschlagen werden konnte, gehört der Vergangenheit an. Alles ist politisch korrekt durchtränkt. Dem Sportreporter Jörg Dahlmann wurden kürzlich weitere Fußball-Kommentierungen verwehrt, weil er bei einer Sky-Direktübertragung Japan als „Land der Sushis“ bezeichnet hatte; sein Vertrag wurde nicht verlängert. Ex-Nationaltorwart Jens Lehmann wurde bei Hertha BSC entlassen und fiel darüber hinaus in Ungnade, nachdem er den Ex-Spieler Dennis Aogo in einem privaten Chat scherzhaft als „Quoten-Schwarzen“ des Senders Sky bezeichnete. Dieser wiederum mußte noch am selben Tag gehen, weil er dort beim Kommentieren eines Champions-League-Spiels vom „Trainieren bis zur Vergasung“ gesprochen hatte.

Kniefallartige Entschuldigungen werden den vermeintlichen Delinquenten abgenötigt, die dann doch nichts helfen. Wer einmal im Abseits steht, bleibt dort. Das freie, spontane Wort rund um den Fußball liegt auf der Goldwaage und wird gegen jeden gewendet, der von der reinen Lehre, wie sie der DFB und das Kanzleramt vertreten, abweicht. Daher entstehen nach dem Spiel Interviews, die an Langeweile nicht zu überbieten sind. Wenn sowohl Journalisten als auch Spieler Angst haben, etwas Falsches zu sagen und um ihre Karrieren bangen, ist auch die dritte Halbzeit gelaufen. Mit in Rhetorikseminaren geschulten Sprechautomaten will sich nämlich auch niemand identifizieren.

 https://de.uefa.com

 Siehe auch Interview Seite 3

Fotos: Bundesligaspieler präsentieren die Losung „Rot gegen Rassismus“, Allianz-Arena München, 2020: Der DFB hat die Fußballvereine zunehmend zu einem Instrument im Kampf für politische Erziehung geformt; Bundeskanzlerin Merkel gratuliert nach Sieg gegen die Türkei im Oktober 2010 in der Kabine Mesut Özil: Politisch benutzter Sport; Timo Werner im neuen Trikot mit Schwarz-Rot und Mini-Gold:  „Die Mannschaft“ vergeigt gegen Fußballzwerg Nordmazedonien