© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Dem Königreich läuft das Volk davon
Unabhängigkeitsbestrebungen in Wales: Nach Schottland denkt nun auch der Südwesten Großbritanniens an die Abspaltung
Daniel Körtel

Am westlichen Vorsprung Großbritanniens wächst der Wunsch nach Unabhängigkeit. Wie zuvor bereits in Schottland, mehren sich nun auch in Wales die Stimmen für einen Austritt aus der britischen Union. Der walisische Regierungschef und Vorsitzende der Labour Party, Mark Drakeford, kündigte bei seiner Siegesrede nach der Wahl des Regionalparlaments Anfang Mai eine „radikale“ und „ambitionierte“ Amtsführung an. 

Drakes moderat-national ausgerichtete Partei hat ihren Vorsprung von 29 auf 30 Sitze in der 60 Sitze umfassenden National Assembly ausgebaut. 

Brexit wird zur Belastungsproble

Was Drakeford seinen Wählern in Aussicht stellt, könnte für den Zusammenhalt Großbritanniens und Nordirlands weiteres Ungemach bedeuten. Ausgerechnet der Brexit hat Zentrifugaltendenzen ausgelöst, die die Bindekraft der britischen Union einer starken Belastungsprobe unterziehen. So weckte der Brexit in der katholischen Bevölkerung Nordirlands die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Süden der Insel. Im schottischen Parlament haben die Befürworter eines erneuten Referendums über einen Austritt aus der Union bereits die Mehrheit gewonnen. Wales könnte nun nachziehen. 

Obwohl die englische Sprache das Walisische nie vollständig verdrängt hat und sich die anglikanische Staatskirche nicht gegen die nonkonformistischen Dissenter durchsetzen konnte, waren die Rufe nach Unabhängigkeit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein immer nur ein Randphänomen geblieben. Es war wie im Fall Schottlands die Wirtschaftspolitik der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher von den konservativen Torys, unter der sich in Wales der Wind zu drehen begann. So erzielte die 1935 gegründete walisische Nationalpartei Plaid Cymru in den neunziger Jahren erste bedeutende Wahlerfolge. Derzeit ist sie mit 13 Sitzen nach der Labour Party und den Konservativen die drittstärkste Kraft im Regionalparlament.

Wie sehr der Wunsch nach Unabhängigkeit im walisischen Volk bereits Fuß gefaßt hat, zeigte sich 2019, als 3.000 Menschen nach einem Aufruf der inzwischen fast 20.000 Mitglieder umfassenden Graswurzelbewegung YesCymru durch die Hauptstadt Cardiff zogen. Die Idee gewinnt vor allem unter jungen Wählern an Attraktivität. In Umfragen stieg die Zustimmung zu einer walisischen Unabhängigkeit auf 39 Prozent. Doch es bleibt die Frage, wie ein unabhängiges Wales für sich alleine bestehen will. Die goldenen Zeiten als Industrierevier und Lieferant von Kohle und Schiefer sind lange vorbei. Über Öl wie die Schotten verfügt Wales nicht. Heute ist das Land auf der britischen Insel ein Armenhaus mit fallender Lebenserwartung seiner Bewohner und steigenden Suizidzahlen.

Schottland ist Wegweiser für Wales

Als Mitglied des Gremiums von YesCymru vertritt Llywelyn ap Gwilym eine andere Ansicht: „Wales ist kein armes Land. Wenn Wales unabhängig wäre, läge es auf Platz 22 der größten Ökonomien in Europa. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist höher als in Spanien. Das Steueraufkommen pro Kopf ist höher als in Neuseeland. Das Durchschnittsvermögen in Wales ist der Durchschnitt im Vereinigten Königreich.“ Erstaunlicherweise hängen selbst die Engländer nicht um jeden Preis ihr Herz an die Union. Historische Narrative wie der nationale Zusammenhalt im Ersten und Zweiten Weltkrieg verlieren an identitätsstiftender Wirkung. Umfragen belegten, daß englische Wähler für den Brexit auch ein Auseinanderbrechen Großbritanniens in Kauf nehmen würden. 

Als ein der britischen Tradition des „stillen Patriotismus“ entgegengesetztes, augenfälliges Symbol für die britische Identitätskrise kann der jüngste Flaggenerlaß der Regierung unter Premierminister Boris Johnson (Konservative) gedeutet werden, wonach wie zu einer Beschwörung des nationalen Zusammenhalts der Union Jack von allen Regierungsgebäuden in England, Schottland und Wales täglich zu flaggen ist und nicht allein zu besonderen Anlässen. 

Ob sich eine Unabhängigkeit für Wales durchsetzen wird, erscheint derzeit noch ungewiß. Entscheidend für den Fortgang wird sein, ob und wie weit Schottland mit seinem Begehren nach einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum kommt. In jedem Fall wird die Waliser Labour Party mit ihrem gestärkten Mandat versuchen, der Regierung in London noch mehr Kompetenzen und Mittel abzutrotzen.

Foto: Demonstranten in Cardiff schwenken die walisische Flagge: Besonders junge Waliser begeistern sich für die Idee der nationalen Unabhängigkeit