© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Der radikale Monumentalplan aus Paris
Internationale Energieagentur: Ökostrom und Atomkraft sollen bis 2050 weltweit Kohle, Gas und Öl ersetzen
Tobias Albert

Schon bis 2030 sollen statt fünf Prozent weltweit 60 Prozent aller Neuwagen E-Autos sein. Zuvor werden jährlich 90 Milliarden Dollar von der öffentlichen Hand in die Forschung investiert, die damit ihr Budget mehr als verdreifacht. Zwanzig Gigafabriken à la Tesla werden pro Jahr für die Batterieproduktion gebaut. Bis 2050 soll „grüner“ Wasserstoff mehr elektrische Energie liefern, als die USA und China heute zusammen verbrauchen. Dies sind keine Phantasien aus dem „Klimaschutzplan 2050“ der Bundesregierung, sondern einige Aspekte aus dem Monumentalplan „Net Zero by 2050 – A Roadmap for the Global Energy Sector“.

Dieser Fahrplan zu einer Welt quasi ohne „Treibhausgasausstoß“ wurde nun von der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris veröffentlicht, an der die USA, die EU-Länder oder Japan direkt, Brasilien, China oder Indien nur als assoziierte Mitglieder beteiligt sind. Erdgas- und Ölländer wie die Golfstaaten, Rußland, Kasachstan, Nigeria, Angola oder Venezuela sind in der IEA nicht vertreten – und ihre Regierungen hätten sicher keinem Investitionsstopp für die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen zugestimmt. Denn wegen des klimapolitisch erzwungenen Nachfragerückgangs sei 2030 nur noch mit einem Ölpreis von 35 Dollar je Faß zu rechnen. Das würde die meisten Ölländer ins Chaos stürzen. Auch der Kohleverbrauch soll bis dahin halbiert werden.

Statt Kohleförderung Abbau von Seltenen Erden

Die IEA wurde 1974 unter dem Dach der westlichen Wirtschaftsorganisation OECD gegründet. Im Vorjahr hatten wichtige Ölländer wegen des israelisch-arabischen Jom-Kippur-Kriegs ihre Lieferung reduziert. Der Ölpreis stieg um 70 Prozent, der Westen schlitterte in die erste Ölkrise. Mit ihrem „Netto-Null-Plan“ (unvermeidlicher CO2-Ausstoß soll durch Pflanzen oder Technik neutralisiert werden) vollzieht die IEA einen Paradigmenwechsel. Und durch den Wechsel von Donald Trump zu Joe Biden gab es keinen Widerstand mehr vom US-Außenministerium, das den 224seitigen IEA-Report mit abgesegnet hat.

Immerhin versucht die IEA, die globale Energiewende mit Konzerninteressen in Einklang zu bringen. Sonst hätten BP, Shell, Toyota und VW oder das chinesische Forschungs- und das japanische Industrieministerium den radikalen IEA-Monumentalplan auch kaum goutiert. Von Oliver Geden – einem deutschen Gender-Studies-Experten und Klimapaniker von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – war schließlich kein Widerstand zu erwarten. Die Maßnahmen sollen mit einer Verdopplung der globalen Wirtschaftsleistung einhergehen. Die Politik müsse über „Marktsignale“ die privaten Investitionen in neue Technologien anregen.

Auf der IEA-Agenda stehen neben den altbekannten Investitionen in Wind- und Solaranlagen, Bioenergie und Wasserstoff auch Technologien, die in Deutschland auf dem Index stehen. So sollen Kohle- und Gaskraftwerke mit futuristischen Kohlenstoffsammlern (CCUS) ausgestattet werden. Atomkraftwerken wird eine essentielle Rolle in der Versorgungssicherheit zugestanden – schließlich haben die World Nuclear Association, die Nuclear Energy Agency und die Atomenergieagentur IAEA oder AKW-freundliche südkoreanische oder britische Ministerien den Report vor der Veröffentlichung gegengelesen.

Mittelpunkt der IEA-Strategie ist es, den Großteil des Energieverbrauchs zu elektrifizieren – der Strom dafür soll aus „erneuerbaren“ Quellen kommen. Die Autoren gehen davon aus, daß einem Verlust von lediglich fünf Millionen Arbeitsplätzen, hauptsächlich im Bereich der fossilen Energien, 14 Millionen neue Arbeitsplätze gegenüberstehen werden. Bergbauunternehmen aus der Kohleförderung würden sich statt dessen auf den Abbau von Seltenen Erden für die Batterieproduktion konzentrieren.

Nur bis 20 Grad heizen, globales Tempolimit 100

Doch was bedeutet all das für die Lebenswirklichkeit der Normalbürger? Kurzstreckenflüge sollen spätestens bis 2050 dort, wo es möglich ist, durch Hochgeschwindigkeitszüge ersetzt werden. Sprich: Der Flug auf die Kanaren oder in die Türkei oder nach Thailand soll nicht verboten werden. Zum Ticketpreis 2050 äußert sich die IEA allerdings nicht. Beim Tempolimit geht der Report sogar über die Forderungen von SPD und Grünen hinaus: Statt deren 130 Stundenkilometerlimit sollen es weltweit ab 2030 nur noch 100 sein. Warum? Eine höhere Geschwindigkeit leert den Akku eines E-Autos rasant. Und in vielen US-Bundesstaaten oder Großbritannien sind schon jetzt nur 65 bis 70 Meilen pro Stunde (105 bis 113 km/h) erlaubt.

Radikaler ist die Forderung, bis 2030 den Energieverbrauch von Heizungen und Klimaanlagen drastisch zu reduzieren: Die Heiztemperatur soll auf 19 bis 20 Grad fallen, die Raumkühlung wird auf 24 bis 25 Grad begrenzt. Das wäre immerhin etwas angenehmer als jene 16 Grad Zimmertemperatur, die 2008 der damalige Berliner SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin Hartz-4-Empfängern zugestehen wollte: Wenn die Energiekosten so hoch seien wie die Mieten, helfe ein dicker Pullover. Praktisch erlebt haben das die Rumänen in den achtziger Jahren unter KP-Diktator Nicolae Ceaușescu. Noch teurer wird der Plan, bis 2050 weltweit nahezu alle Gebäude „klimaneutral“ zu beheizen.

Werbekampagnen („public awareness campaigns“) sollen die Bürger vom Komfortverzicht überzeugen. Zudem zeige die Corona-Krise, daß die Bürger in „signifikanter“ Geschwindigkeit ihr Verhalten ändern können, wenn sie die Veränderungen für gerechtfertigt hielten. Der Corona-Lockdown als Generalprobe für den Klima-Shutdown (JF 22/21)? Mit dem IEA-Report ist das keine Verschwörungstheorie mehr, sondern alternativlos für das „Pariser 1,5-Grad-Ziel“: Die globale Erwärmung sei die wohl „größte Herausforderung, der die Menschheit jemals gegenüberstand“, so der türkische IEA-Chef Fatih Birol.

Daß sich der schwankende Wind- und Solarstrom nicht im Netz speichern läßt und die Atom- und Bioenergie begrenzt ist, wissen die Autoren. Einen Blackout soll eine flexible „Antwort der Nachfrage“ verhindern – sprich: Stromverbrauch nur dann, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Die Spül- und Waschmaschine, der Backofen, der Grillabend oder das private E-Auto muß im Zweifel warten. Kurzfristig „abschaltbare Lasten“ (JF 5/21) lassen sich sicher auch zuhauf bei Dienstleistern, Mittelstand und Industrie finden. Dennoch ist der IEA-Report realistischer als die Forderungskataloge der Klima-Lobby, und er zeigt seine größte Stärke in den zahlreichen optimistischen Szenarien, die für die verschiedenen Wirtschaftssektoren ausgearbeitet wurden.

IEA-Report „Net Zero by 2050 – A Roadmap for the Global Energy Sector“: www.iea.org