© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Inflation und die Rückkehr zur Vorratswirtschaft
Lieferengpässe: Wenn ausländische Lieferungen ausbleiben, gibt es in Deutschland derzeit kaum Alternativen / Mehr heimische Produktion?
Paul Leonhard

Verkehrte Welt: Der pandemiebedingt gedrosselte Konjunkturmotor springt wieder an, aber für einige Branchen in Deutschland könnte das Kurzarbeit bedeuten – trotz voller Auftragsbücher. Denn es fehlt nicht nur in der Bauwirtschaft an Material (JF 22/21). 71 Prozent der Firmen der Gummi- und Kunststoffindustrie, 65 Prozent der Autobranche sowie 51 Prozent der Hersteller von Metallprodukten befürchten Lieferengpässe. Betroffen sind Familienbetriebe wie Großkonzerne der Auto- und Chemieindustrie, ergab eine aktuelle Umfrage des Ifo-Instituts.

Manche Betriebe würden bereits Teile horten, berichtete der Bayerische Rundfunk, als dokumentiere er die DDR-Mangelgesellschaft: „Viele Einzelteile des alltäglichen Bedarfs sind im Großhandel nicht verfügbar. Und schon bald könnten noch mehr Regale leer sein.“ Die „Just in time“-Fertigung (JIT) bricht zusammen, wenn es die benötigten Waren nicht gibt. Die Lieferengpässe werden mit dem strengen Winter in den USA, Überschwemmungen in China, dem Borkenkäferbefall in den Wäldern, dem Containerschiff „Ever Given“, das den Suezkanal tagelang blockierte, oder dem erschwerten Grenzverkehr erklärt.

„Stark abhängig von ausländischen Materialien“

Das spricht für mehr „Made in Germany“ und Lieferverbote ins Ausland – doch Wirtschaftsvertreter halten davon wenig: „Das Schlimmste, was die Politik jetzt tun könnte, wäre, Exportverbote auszusprechen. Das würde den ganzen Markt durcheinanderbringen“, warnt beispielsweise Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der Münchner Industrie- und Handelskammer. Beschränkungen im Wirtschaftsverkehr würden Gegenreaktionen provozieren: „Deutschland ist viel mehr abhängig von ausländischen Materialien als umgekehrt“, so Gößl.

Doch asiatische Hersteller beliefern lieber die eigene Wirtschaft als Europa oder Nordamerika. Daher fehlen Halbleiterchips. Und weil die US-Autobauer auch unter Joe Biden lieber amerikanische Arbeiter in Lohn und Brot halten wollen, stellt Ford die Fiesta- und Focus-Fertigung wegen Chipmangel wochenlang ein. Das deutsche Sozialsystem finanziert schließlich die Kurzarbeit: Jeder dritte der 15.000 Fordianer in Köln ist betroffen, im Werk in Saarlouis, wo vorerst bis zum 7. Juni die Montagebänder stillstehen, sind es 4.500. Auch bei Mercedes gab es Kurzarbeit – schließlich werden zwischen 1.200 und 1.400 Chips in einem Auto verbaut.

Peugeot baut im Modell 308 vorübergehend wieder analoge statt digitaler Tachos ein – das ist zwar teurer, aber für die Dauerhaltbarkeit ist das sogar besser. Die Wirtschaftswoche berichtete von einer 40köpfigen Taskforce, die VW eingerichtet hat und die Elektronikteile auftreiben soll, damit weiter produziert werden kann: Eine Grafik mit roten, gelben und grünen Balken informiert, wo der Nachschub mit Chips funktioniert, wo er stockt, aber wieder in Gang gebracht werden kann, und wo es noch keine Idee gibt, woher die Mangelware kommen könnte. In den DDR-Staatsbetrieben nannte man solche Experten, die fehlende Teile „besorgten“, bis 1989 Dispatcher.

Stärkung der strategischen Souveränität angemahnt

Auch die Berliner AVM, Hersteller der beliebten Fritzbox-Serie fürs Heimnetz, beklagt „kurzfristig stornierte Lieferzusagen für Bauteile“. Bestimmte Kabelrouter fürs Homeoffice sind teilweise nicht sofort lieferbar – die Verkaufspreise steigen daher. Dem schwäbischen Motorsägen-Hersteller Stihl geht es in einer völlig anderen Branche ähnlich. Sogar beim iPhone-Konzern Apple würden Teile für Tablets und Notebooks knapp, berichtete das Handelsblatt und zitiert den Technik-Analysten Glenn O’Donnell von Forrester Research: „Bevor sich die Situation entspannt, wird alles noch viel schlimmer.“ Sprich: Wer nicht warten will oder kann, muß teilweise inflationäre Preise zahlen.

Daß Corona-Impfstoff fehlt, ist verständlich, aber es fehlen auch simple Verbrauchsmaterialien wie Pipetten. Mehr als 60 Prozent der Labore in Deutschland und 44 Prozent europaweit wurden 2020 mit Materialien für Blutproben und Corona-Tests verspätet oder gar nicht beliefert, hat eine Umfrage der Starlab International GmbH unter 226 Labormitarbeitern ergeben. Doch Sars-CoV-2 hat nicht nur die Schwachstellen des gewinnorientierten Wirtschaftsbetriebs Krankenhaus offengelegt, sondern auch die Abhängigkeit der Industrieländer von importierten Waren und damit die Kehrseite des JIT-Ansatzes.

Plötzlich ging es darum, jenseits der Lieferketten vorhandene Lagerbestände zu ermitteln und für die eigene Produktion zu sichern. Die Tugend der vor drei Jahrzehnten überwunden geglaubten Mangelgesellschaften, das Improvisieren, war wieder gefragt. Manager entwarfen, je nach Mentalität, Notfallpläne oder riefen gleich nach der staatlichen Gelddruckmaschine – das erinnerte an die Weltfinanzkrise 2008/09. Der deutsche Industrieverband BDI sieht Brüssel in der Pflicht: „Die EU ist mit Blick auf die Stärkung ihrer strategischen Souveränität gefordert, sich zügig mit Lieferengpässen und Kapazitätsaufbau zu befassen“, erklärte BDI-Experte Wolfgang Niedermark im Handelsblatt.

Im Frühjahr 2020 wurden die Lieferschwierigkeiten erstmals für Privatverbraucher spürbar, als an Einweghandschuhen, Masken und Toilettenpapier mangelte. Nudeln und H-Milch waren kurzzeitig quasi rationiert. Wird es eine Rückkehr zum JIT-System geben? Die hohen Lagerhaltungskosten sprechen dafür. Autokonzerne, die es sich leisten können, werden ausgelagerte Bereiche allerdings wieder ins eigene Reich holen. Lokale Lagerbestände würden nicht mehr verteufelt, sondern wirtschaftlich kalkuliert, prognostiziert Daniel Hajduk von der Schweizer Logistikfirma Asstra. In der Transportbranche würden Abläufe „digitalisiert und gemeinsame Plattformen aufgebaut, auf denen die Prozeßbeteiligten aktuelle Informationen austauschen können, die zuvor häufig fehlten“.

Angesichts von Produktionsstillstand, Lieferausfällen und Umsatzverlusten hat beispielsweise der Kinderfahrradhersteller Woom aus Klosterneuburg in Österreich – mehr als 50 Millionen Euro Umsatz 2020 – seine ganz eigenen Schlußfolgerungen gezogen, Wertschöpfungsketten überprüft und letztlich große Teile seiner Produktion von Asien nach Polen verlagert. Ein richtiger Schritt, denn „wer lieferfähig ist, macht das Geschäft“, findet Martin Geis, Direktor der Unternehmensberatung TMG Consultants. Auch der im Besitz des Emirats Abu Dhabi befindliche Chipauftragsfertiger Globalfoundries will die Kapazität seines Dresdner Standortes bis 2025 um das Zweieinhalbfache ausbauen. Etwas mehr „Made in Germany“ könnte es also nach Corona geben.

„Industriepolitik Dossier“ 5/21:  bdi.eu