© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Die Eidgenossen geben ihre nationale Souveränität nicht auf
Wirtschaftspublizistik: Gerhard Schwarz analysiert die Schweiz in der Globalisierung / Erfolgreiche Besinnung auf die eigenen Stärken außerhalb der EU
Joachim Starbatty

Nach dem Abbruch der Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU glauben viele, daß die Schweiz ein angeschlagenes Schiff sei, das auf den Wellen der Globalisierung hin und her geschleudert werde. Gerhard Schwarz sieht darin eher eine Chance für die Schweiz, ohne Brüsseler Bevormundung ihre Eigenart weiter zu entwickeln und sich gerade so in der Welt behaupten. Und der liberale Publizist und langjährige Ressortchef für Wirtschaft bei der Neuen Zürcher Zeitung, hat seine Sicht auf die Eigenart der Schweiz und ihre Zukunftschancen in der Globalisierung, fast prophetisch, schon im April in Buchform vorgelegt.

Direkte Demokratie bewahrt Politiker vor dem Abheben

Die Schweiz als eine Staatsform sui generis sei ohne ihre Geschichte, ihre Lage inmitten Europas und ihre alpine Geographie nicht zu denken. Einen Punkt hebt Schwarz hervor: Staat als Genossenschaft. Darin stecke etwas Solidarisches und zugleich Egalitäres. Dahinter stehe die weit in die Geschichte der Menschheit und ihres Umgangs mit den Widrigkeiten der Natur zurückreichende Erfahrung, daß der Mensch auf sich gestellt hilflos sei. Das spezifisch Schweizerische sei, daß der Eidgenosse nicht Hilfe von oben erwartet, vom Staat, sondern von seinen Genossen, von jenen, die mit ihm leben und ähnliche Erfahrungen durchgemacht haben.

In einem solchen genossenschaftlichen Verbund wisse der Genosse, was sein Nächster braucht, könne ihm beistehen, ihn zugleich aber auch auf seine eigene Verantwortlichkeit aufmerksam machen. „Das ist gelebte Subsidiarität“, so Schwarz. Dazu paßt auch die direkte Demokratie, wo die Genossenschaft als Souverän bei politischen Weichenstellungen gefragt werde; sie könne oft aus unmittelbaren Erfahrungen – etwa bei der Regelung der Freizügigkeit von Arbeitskräften – urteilen. Politiker würden vor dem Abheben bewahrt, weil sie dann Rede und Antwort stehen müßten.

Darauf gründe auch der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz. Ihr wahrer Reichtum liege nicht im greifbaren Kapital, sondern in als typisch angesehenen Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Sorgfalt oder Zuverlässigkeit, also Eigenschaften, die früher auch als typisch deutsch galten. Der entscheidende komparative Vorteil der Schweiz liege im Arbeitsmarkt: Während allgemein versucht wird, Arbeitslosigkeit durch Regulierungen unter Kontrolle zu bringen, setzt die Schweiz auf Freiheit. Einschränkungen unternehmerischer Flexibilität gehen zulasten der Arbeitsuchenden. Weil Kündigungen relativ einfach sind, aber trotzdem kein amerikanisches „hire and fire“ ohne soziale Absicherung bedeuten, habe die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg ein Beschäftigungswunder erlebt: praktisch durchgehend Vollbeschäftigung.

Gerhard Schwarz verschweigt nicht, daß der Wohlstand auch durch Einwanderer und Grenzgänger geschaffen und hochgehalten wird. Der Reichtum der Schweiz basiert zudem auf der internationalen Arbeitsteilung: Etwa die Hälfte der Warenexporte gehen in die EU, aber nur sieben Prozent der EU-Exporte gehen in die Schweiz. Die EU könnte ohne die Schweiz leben, die Schweiz aber nicht ohne die EU. Daher wollen schweizerische Firmen den Zugang zum Binnenmarkt unbedingt offenhalten; sie sind bereit, dafür Mitspracherechte der EU in der Schweiz zu akzeptieren.

Die Mehrheit der Schweizer lehnt aber eine Einmischung der EU in ihre inneren Angelegenheiten ab. Als Mitglied des Europaparlamentes habe ich bei den Verhandlungen in den Ausschüssen den Eindruck gewonnen, daß die meisten EU-Abgeordneten die Schweiz auf das Regelwerk der EU verpflichten wollen, ohne daß ihr die Rechte eines Mitgliedslandes zustehen. Hier setzt Brüssel auf die EU-Marktmacht. Es ist daher nicht wahr, daß sich die Schweiz die Rosinen aus dem Kuchen herauspickt, wenn es über den freien Zugang zum Binnenmarkt seine Produkte vermarkten will.

Mit Marktwirtschaft im Standortwettbewerb

Schweizerische Produkte werden in der EU gekauft, weil Alternativen nicht zu haben oder schlechter sind. Daraus ziehen beide Partner ihren Vorteil. Deswegen plädiert Schwarz für einen Ausbau des bestehenden bilateralen Systems. So würden beide gewinnen. Die EU sollte den Schweizer Sonderweg auch als eine Möglichkeit sehen, an einem Gegenmodell die Vorteilhaftigkeit des eigenen Weges zu überprüfen. Unsere Außenpolitiker wären gut beraten, gerade im deutschen Interesse für gute Verhältnisse zum engen und im Prinzip ähnlichen Nachbarn zu sorgen.

Aber wie will sich die Schweiz in der Globalisierung behaupten, wenn unsere Politiker annehmen, ohne die EU herumgeschubst zu werden? Schwarz plädiert dafür, auftretende Defizite des schweizerischen Standorts gezielt zu bekämpfen, seine Stärken auszubauen und so die Position als freiheitliche Marktwirtschaft im internationalen Standortwettbewerb zu festigen. Das ist auch eine Antwort auf das Mantra europäischer Politiker, durch nationalen Souveränitätsverzicht die gemeinschaftliche Kraft der EU zu stärken, um sich so gegen den Druck aus China und den USA zu behaupten.

Es lohnt herauszufinden, wie die Schweiz ihre Stimme im globalen Konzert zur Geltung bringt: durch Leistung und attraktive Standortbedingungen. Die Lektion, die wir von Gerhard Schwarz lernen, ist einsichtig: Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel bedeutet nicht mehr Effizienz und weltweiten Einfluß, sondern Zentralismus, Bürokratie und Bürgerferne. Das ist die falsche Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung.






Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Ökonom. Er war Chef der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und EU-Abgeordneter.

Gerhard Schwarz: Die Schweiz hat Zukunft. Von der positiven Kraft der Eigenart. Schwabe Verlagsgruppe, Basel 2021, broschiert, 168 Seiten, 29 Euro