© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Kein Hort der Toleranz
Einwanderungsland Deutschland: Manches eint und vieles trennt
Christian Schreiber

Spätestens seit Beginn der sechziger Jahre ist Deutschland von den Regierenden als Einwanderungsland bezeichnet worden. Waren es zunächst vor allem Arbeitskräfte, die die aufstrebende Wirtschaft benötigte, so änderte sich die Art der Zuwanderung im Laufe der Jahrzehnte.  Mit dem Rückgang der Arbeitsmigration gewann die Zuwanderung im Rahmen der Familienzusammenführung an Bedeutung. 

Seit den neunziger Jahren kehrten aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion viele deutschstämmige Aussiedlerinnen und Aussiedler in das Land ihrer Vorfahren zurück. Die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten hatte eine deutliche Zunahme der Zuwanderung aus Polen zur Folge.

Zuletzt kamen in den Jahren 2015 und 2016 rund eine Million Menschen aus Syrien, die vor dem dortigen Bürgerkrieg flohen. „Was eint eine Einwanderungsgesellschaft? fragte sich aufgrund dieser mittlerweile sehr heterogenen Bevölkerungszusammensetzung die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung und befragte 3.003 in Deutschland lebende Erwachsene über 18 Jahre. 

Die kürzlich veröffentlichte Studie beschränkte sich auf die Analyse der vier größten Zuwanderergruppen. Dabei handelt es sich um Spätaussiedler sowie Personen mit polnischem, russischem und türkischem Migrationshintergrund.

Geforscht wurde auf zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene wurde die deutsche Bevölkerung ohne Migrationshintergrund mit Personen verglichen, die entweder selbst oder deren Vorfahren eine Zuwanderungsgeschichte aufweisen. Als Personen mit Migrationshintergrund definiert werden „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vom Juli 2020 besaßen 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2019 einen Migrationshintergrund. Das entspricht 21,2 Millionen Bürgern.

Deutsche ohne Migrationshintergrund sind der Umfrage zufolge im Schnitt weniger religiös als Spätaussiedler und Personen mit russischem, polnischem und türkischem Migrationshintergrund. 

In der Umfrage gaben 38 Prozent der Deutschen  an, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören. 25 Prozent bekannten sich zur römisch-katholischen Kirche und 29 Prozent zur evangelischen Kirche. Drei Prozent gehörten einer der orthodoxen Glaubensrichtungen an.  Erwartungsgemäß unterscheidet sich die Religionszugehörigkeit von Personen mit Migrationshintergrund deutlich von derjenigen der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Bei Spätaussiedlern gehören lediglich 14 Prozent keiner Religionsgemeinschaft an, 22 Prozent bezeichnen sich als katholisch, 28 Prozent als evangelisch, 15 Prozent als orthodox und 20 Prozent als muslimisch. 

Im Hinblick auf die religiöse Zugehörigkeit handelt es sich bei Spätaussiedlern somit um eine eher heterogene Gruppe, in der jedoch die christlichen Konfessionen überwiegen. 

Die Bevölkerungsteile, die im Durchschnitt religiöser sind, beten auch häufiger. Der Anteil an Personen, die täglich beten, ist unter Deutschen am niedrigsten. Von ihnen beten nur zwölf Prozent täglich. Gleichzeitig gibt fast jeder zweite Deutsche an, nie zu beten. Polnischstämmige (20 Prozent) beten häufiger täglich als Deutsche und deutlich seltener nie (18 Prozent). 

Christliche Prägung  Deutschlands schwindet

Noch etwas höher liegt der Anteil der täglich Betenden bei Russischstämmigen (27 Prozent) sowie Spätaussiedlern (28 Prozent). Allerdings sagten auch knapp ein Drittel der Russischstämmigen und ein Fünftel der Spätaussiedler, daß sie nie beten. 

Mit Abstand am häufigsten geben türkischstämmige Migranten an, täglich zu beten. Von ihnen praktizierten 53 Prozent ihren Glauben. Zugleich ist bei ihnen der Anteil an Personen, die nie beten, mit 15 Prozent am niedrigsten. Insgesamt ist die Distanz zu Religion und Glaube bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund am deutlichsten ausgeprägt. 

Für die Integration von Zugewanderten bedeutet das: Es handelt sich bei der Aufnahmegesellschaft um eine stärker säkularisierte Gesellschaft, in der Religion nicht mehr die tragende Rolle spielt. Zahlreiche zentrale Wertvorstellungen weisen zwar eine deutliche christliche Prägung auf, Religion als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts hat aber stark an Bedeutung eingebüßt“, schreiben die Autoren. Daher fordert auch nicht einmal die Hälfte der Deutschen, daß ihr Glauben besser geschützt werden müsse. 

Bei Deutschen ohne Migrationshintergrund genießt das Leistungsprinzip mit 92 Prozent die größte Zustimmung, gefolgt von der Unzufriedenheit mit der Reaktionszeit der Politik auf Probleme (84 Prozent). Sehr hoch war auch die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe bei unheilbar Kranken (82 Prozent). Personen mit Migrationshintergrund weisen dagegen tendenziell traditionellere gesellschaftliche Einstellungen auf. 

Alle untersuchten Zuwanderergruppen waren zurückhaltender in bezug auf Sterbehilfe sowie Schwangerschaftsabbrüche und stimmten häufiger zu, daß Kinder unter drei Jahren zu Hause betreut werden sollten. Bei den Deutschen ist dagegen nicht einmal jeder zweite der Meinung, daß Kleinkinder zu Hause betreut werden sollten. Bei Befragten mit türkischem Migrationshintergrund traten bei der Umfrage markante Unterschiede sowohl in der Reihenfolge als auch in der absoluten Höhe der Zustimmungsraten auf. 

Das Leistungsprinzip landete bei ihnen zwar ebenso auf Platz eins wie in allen anderen untersuchten Gruppen, mit 97 Prozent war die Zustimmung aber mit Abstand am höchsten. Deutlich wichtiger als Deutschen ohne Migrationshintergrund ist ihnen der Schutz des eigenen Glaubens vor Beleidigungen (80 Prozent). 

Wenn es um die Familie geht, hört der Spaß auf

Auch der häuslichen Betreuung kleiner Kinder (77 Prozent), der religiösen Erziehung ihrer Kinder (66 Prozent) sowie dem Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen (37 Prozent) stimmten sie häufiger zu als Deutsche ohne Migrationshintergrund. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auch Polen oder aus Rußland stammende Menschen sowie Spätaussiedler bei diesen Themen deutlich konservativer eingestellt sind als sogenannte „Bio-Deutsche“. 

Bei den Fragen nach Demokratie und Sozialstaat sind manchen Migrantengruppen zentrale Grundwerte weniger wichtig als Deutschen ohne Migrationshintergrund: Polnischstämmigen und Russischstämmigen sind Meinungs- und Pressefreiheit weniger wichtig als Deutschen, bei Russischstämmigen gilt das zusätzlich für Glaubens- und Demonstrationsfreiheit. Auch Spätaussiedlern sowie Türkischstämmigen ist das Recht zu demonstrieren weniger wichtig als Deutschen ohne Migrationshintergrund. 

Türkischstämmige gaben mit 90 Prozent von allen untersuchten Gruppen am häufigsten an, Meinungsfreiheit sei ihnen sehr wichtig. „Das sollte jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da nicht erhoben wurde, was genau die Befragten unter Meinungsfreiheit verstehen. Gleichzeitig wünschen sich 80 Prozent der Türkischstämmigen einen besseren Schutz ihres Glaubens vor Beleidigungen. Meinungsfreiheit stößt bei dieser Gruppe offenbar an Grenzen, wenn der eigene Glaube betroffen ist“, erklären die Autoren dazu. 

Eine grundsätzliche Toleranz gegenüber den verschiedenen Konfessionen ist nach der Auffassung der Autoren durchaus vorhanden, und Kontakt zu Andersgläubigen oder der Besuch eines Festes in einer Kirche oder Moschee werden nicht per se abgelehnt. Wenn es um die eigene Familie geht, fällt die Toleranz jedoch geringer aus. Vor allem Polen und Türken lehnen es ab, daß die Tochter einen Juden heiratet. Zusätzlich lehnen Polen einen muslimischen und Türkischstämmige einen christlichen Schwiegersohn mehrheitlich ab.

Bei Deutschen ohne Migrationshintergrund gibt es erwartungsgemäß gegen einen christlichen Schwiegersohn kaum Vorbehalte (zwei Prozent). Wäre dieser Jude, hätten elf Prozent Vorbehalte. Einen muslimischen Schwiegersohn fänden 23 Prozent nicht gut. Noch größer sind die Unterscheide bei den Türken. Fast jeder zweite Türke fände es nicht gut, wenn die Tochter einen Christen heiraten würde. Noch höher fällt die Ablehnung eines jüdischen Schwiegersohns aus: Über die Hälfte (54 Prozent) möchte keine Hochzeit der Tochter mit einem Juden. Dies war der höchste Wert in allen untersuchten Gruppen.

Deutliche Unterschiede zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund gibt es auch bei der Einstellung zu gleichgeschlechtlichen Ehen, die nur eine geringe Minderheit der Deutschen ohne Migrationshintergrund ablehnen. Unter Russischstämmigen und Spätaussiedlern werden gleichgeschlechtliche Ehen schon von nahezu jedem und jeder zweiten abgelehnt. Unter Türkischstämmigen findet sich sogar eine Mehrheit von 60 Prozent, die gleichgeschlechtliche Ehen ablehnt. 

Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß die „Analyse eine Vielzahl mutmachender Ergebnisse aufgezeigt. Personen mit Migrationshintergrund weichen zwar in einigen Haltungen und Einstellungen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ab, sie sind traditioneller und religiöser, aber zentrale Werte der deutschen Gesellschaft werden im wesentlichen von ihnen geteilt.“ Teilweise gebe es aber Nachholbedarf für die Bedeutung von Presse-, Meinungs-, und Demonstrationsfreiheit sowie für eine gewaltfreie Konfliktlösung.

Foto: Unterschiedliche Kulturen am Hermannplatz im Berliner Stadtteil Neukölln: Unterschiedliche Einstellungen zur Presse-, Meinungs-, und Demonstrations- und Gewaltfreiheit prallen hier beinah täglich aufeinander