© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Denkmalstürze in rettender Absicht
Über Goethe und Luther: Zur Erinnerung an den großen deutsch-jüdischen Biographen Richard Friedenthal
Oliver Busch

Georg Ramseger, Feuilletonchef der Welt, hatte auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1962 erfahren, daß der Piper Verlag zur nächsten Messe eine 700 Seiten dicke Goethe-Biographie auf den Markt werfen werde. Nichts Sensationelles eigentlich, denn die seit Ende des 19. Jahrhunderts dem Leben des Dichterfürsten gewidmeten Werke beanspruchten damals schon viele Regalmeter. Und doch schien ein sechster Sinn Ramseger zu flüstern, hier keimt Außergewöhnliches. Wie es der Zufall wollte, logierte er in derselben Pension wie der Autor, ein Mittsechziger namens Richard Friedenthal, ein seit seiner Emigration 1938 in London lebender Schriftsteller, der – nach der Fingerübung einer schmalen Händel-Studie (1959) – mit dem „Goethe“ sein Debüt als Biograph geben wollte. 

Nach dem Abendessen, so ist aus Hans Wageners Friedenthal-Biographie (2002) zu erfahren, luchste Ramseger seinem Zimmernachbarn ein paar Blätter aus dem Manuskript ab, deren Lektüre ihn augenblicklich davon überzeugte, einen großen Fang gemacht zu haben. Am nächsten Morgen bot er Friedenthal für ein sagenhaftes Honorar von 10.000 D-Mark den Vorabdruck des Ganzen an. Zum Entsetzen des Chefredakteurs Hans Zehrer, der damit drohte, den im Mai 1963 anlaufenden Abdruck von 171 Folgen sofort abzubrechen, falls sich negative Leserreaktionen häufen würden. Ihm schwante, die Welt könnte sich mitschuldig an einem Denkmalsturz machen. 

Nichts lag dem Goethe-Verehrer Friedenthal zwar ferner als das. Aber sein „geistesgeschichtliches Sachbuch“, eine neue Form der Biographie, die den Dichter, Naturforscher, Politiker, Liebhaber, Ehemann und Vater Goethe erstmals als alle Facetten der Revolutionsepoche spiegelnden Zeitgenossen präsentierte, zerstörte tatsächlich das in Teilen des deutschen Bildungsbürgertums noch gepflegte Idealbild einer vollkommenen Persönlichkeit, eines dem allzu Menschlichen olympisch entrückten Genies. Kaum zwanzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur empörten sich mithin viele Leserbriefschreiber darüber, daß Friedenthals „entmythologisierter“ Goethe die selbst nach 1933 mühsam bewahrten „letzten Ideale des Kulturvolks der Deutschen“ in den Staub trete, indem er den Klassiker nicht als unantastbaren Heros, sondern als Menschen in seinen Widersprüchen vergegenwärtigte. Doch für ihn war dies die einzig zulässige Darstellungsform, um im Massenzeitalter das Interesse an Goethes unerschöpflichem Werk und an der Bildungsmacht der Weimarer Klassik wachzuhalten oder neu zu wecken. Anders ließ sich Goethe als Gemeinschaft stiftende nationale Identifikationsfigur nicht mehr retten. 

Der Erfolg gab ihm recht. Allein bis zu seinem Krebstod, im Oktober 1979 in der Kieler Universitätsklinik, erreichte „Goethe – Sein Leben und seine Zeit“ eine 500.000er-Auflage – die zahlreichen Übersetzungen nicht mitgerechnet. Als Rüdiger Safranski fünfzig Jahre später seinen nicht einmal ansatzweise solche Gipfel erstürmenden „Goethe. Kunstwerk des Lebens“ (2013) vorlegte, ging es schon nicht mehr darum, einen Ausnahmemenschen als Leitbild für das Handeln einer weiteren Generation deutscher Normalmenschen zu vitalisieren. Weil die Nation, der eine Biographik das Wir-Gefühl festigende Modelle gelungenen Lebens hätte nahebringen können, sich in der multikulturellen Berliner Republik im finalen Stadium der Auflösung befand. So vermochte Safranski Goethes faszinierende „Individualität“ nur noch den in die innere Emigration geflüchteten Selbstdenkern im Lande ans Herz zu legen, damit sie von ihm lernten, ihr „geistig-seelisches Immunsystem“ gegen eine systemkonforme Masse von Mitläufern zu festigen.

Luther als Katalysator der Zeitströmungen

Wie Theodor Fontane schuf Friedenthal sein „Eigentliches“ in einem staunenswerten Alterswerk. 1967 erschien nach dem wieder auf rettende Desillusionierung gestimmten Goethe-Muster eine Luther-Biographie, die sich ungeachtet der spröden religiös-theologischen Thematik binnen zweier Jahre 150.000mal verkaufte. Der Reformator tritt darin eher als Katalysator der Zeitströmungen, denn als die päpstliche Macht erschütterndes Genie der Tat auf. Es folgten 1969 drei etüdenhafte Porträts, die Michel de Montaigne, Blaise Pascal und Denis Diderot unter dem unglücklichen Titel „Entdecker des Ich“ vereinen. Nur für den unentwegt sein Inneres abhorchenden Zweifler Montaigne, so monierten frostige Kritiken, treffe die Bezeichnung zu. Pascal entdeckte hingegen nicht sein Ich, sondern Gott, und Diderot interessierte sich ausschließlich für die Außenwelt.

1973 kehrte Frieden-thal mit einer Jan-Hus-Biographie ins Vorfeld der Reformation zurück, bevor der am 9. Juni 1896 in München geborene, in Berlin aufgewachsene Sohn eines jüdischen Naturforschers und einer Pastorentochter sich mit einer Marx-Biographie (postum 1981) dem eigenen Herkunftsmilieu, dem assimilierten jüdischen Bürgertum, zuwandte. Sein 125. Geburtstag wäre angesichts bundespräsidialer Klitterungen über „verfolgte Juden“ im Kaiserreich Anlaß genug, seine Familien- als Kapitel preußisch-deutscher Geschichte zu erinnern, die etwa zum Großonkel Rudolf Friedenthal führt, der im Januar 1871 zu jenen drei Parlamentariern gehörte, die Bismarck zur Reichsgründungsfeier nach Versailles einlud.