© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Ein Schriftsteller in der Sinnkrise
Flanieren durch Prag: Jörg Bernigs Novelle „Der Wehrläufer“ steckt voller literarischer Anspielungen
Thorsten Hinz

So könnte ein morgendlicher Traum vom Glück aussehen, der Wirklichkeit geworden ist: Ein Mann von Anfang, Mitte fünfzig, erwacht in einem stilechten Art-déco-Bett. Die Wohnung befindet sich im fünften Stock eines Prager Jugendstilhauses direkt an der Moldau. Er tritt an die tiefgezogenen französischen Fenster, die den Blick auf das andere Flußufer, auf den Laurenziberg und den Hradschin freigeben.

Doch viel mehr als der atemberaubende Ausblick interessieren den Betrachter die Aktivitäten eines Mannes, der sich unten am Flußwehr – eine künstliche Fallstufe, die die Fließgeschwindigkeit beschleunigt – zu schaffen macht, in dem Treibgut, Geäst und Gehölz sich verfangen haben. Mitten im Fluß balancierend, löst sie der Wehrläufer mit einer Stange geschickt heraus, worauf sie schleunigst flußabwärts treiben.

Er fühlt sich wie ein Mann ohne Vergangenheit

Der Mann am Fenster ist Schriftsteller. Die Tätigkeit, die er beobachtet, läßt ihn an seiner Berufung zweifeln und über Alternativen nachdenken. Klarerweise befindet er sich in einer Schaffenskrise. Die Arbeit am neuen Roman stockt, sie hat sich genauso verhakt wie das Gehölz im Wehr. Nach Prag ist er gekommen in der Erwartung, daß der Ortswechsel die innere Blockade aufhebt. Den Aufenthalt verdankt er einem Literaturstipendium. Auch die Einladung zum „OstSEELiterarischen Sommer“ – „eine Matinee an der Mole, eine Abendlesung am Kamin“ –, die ihn per Mail erreicht, kann er unmöglich ablehnen. Das angebotene Honorar reicht aus, um ein paar Monate davon zu leben, wenn er sparsam ist. Die äußeren Verhältnisse entsprechen einer durchschnittlichen Schriftstellerexistenz.

Die inneren Verhältnisse hingegen sind völlig konfus, seine Schaffens- ist eine umfassende Lebenskrise. Er fühlt sich wie ein Mann ohne Vergangenheit. Sobald er versucht, sich seine Kindheit und Jugend zurückzurufen, schiebt sich eine eingetrübte Glaswand davor und verwandelt sie in eine unwirkliche Vorzeit. In dieser Vorzeit gab es vier Freunde, die aufeinander eingeschworen waren wie die Musketiere. Der eine ertrank noch im Kindesalter, der zweite warf sich aus Liebeskummer vor einen Zug. Der dritte starb mit Anfang vierzig an Krebs; ihr Kontakt hatte sich seit 20 Jahren auf gelegentliche Telefonate und formelhafte Ansichtskarten beschränkt. 

Warum war das so gewesen? Warum sind seine Beziehungen zu Frauen gescheitert? Mit über vierzig hatte er es noch einmal versucht. Um für ihn frei zu sein, hatte die eine sich sogar von einem kulturell desinteressierten, mit Kulturfragen betrauten Ministerialbeamten scheiden lassen. Doch nach einiger Zeit gab sie ihm den Laufpaß. Er sei wie ein „Himmelskörper“, er kenne alle Welt, habe aber niemanden, der ihm nahestehe, weder Verwandte noch Freunde.

Als ihn in Prag ein schwerer Herzanfall ereilt, rechnet er sich aus, daß niemand ihn vermißt und im Fall der Fälle zeitnah nach ihm fragen würde. Die einzige Spur, die von ihm bliebe, wären die 30 Zentimeter, die seine Bücher auf einem Bücherbrett einnehmen. Und nicht mal das wäre sicher.

Doch da ist nun Prag, eine der schönsten Städte, die es gibt. Obwohl in einem anderen Land, in einer anderen Sprache, fühlt er sich überhaupt nicht fremd. Mit somnambuler Sicherheit, als kundiger Flaneur, bewegt er sich nach überstandener Krise durch ihre Straßen und Plätze. Der Autor nennt die Novelle „Eine Geschichte aus Prag“. Jörg Bernig hat eine starke Affinität zu der Gegend, die heute Mittelosteuropa genannt wird, speziell für Böhmen, wo schon sein Vertreibungsroman „Niemandszeit“ (2002) spielte. 

Der Text ist voller Anspielungen und literarischer Reminiszenzen. „Der Tod in Venedig“ wird erwähnt, es werden Verse von Rilke, dem Prager Deutschen, zitiert. Wenn der Flaneur durch die Fenster in das Innere des „Café Slavia“ schaut, ist der gleichnamige Roman von Ota Filip präsent, und der Vergleich des nächtens angeleuchteten Veitsdoms mit einem intergalaktischen Raumschiff hoch über der Moldau weckt Assoziationen an Gustav Meyrinks phantastische „Walpurgisnacht“. Auf dem Vyšehrader Friedhof entdeckt der Flaneur die Gräber böhmischer Berühmtheiten, unter anderem der beiden Komponisten Antonín Dvořák und Bedřich Smetana sowie der Schriftstellerin Božena Němcová.

Archaisches verschmilzt mit dem modernen Geist

Auf diesem Friedhof befindet sich auch das Grab des surrealistischen Dichters Vítězslav Nezval (1900–1958), der 1938 in Vorahnung des kommenden Krieges den traumhaft schwebenden Essay „Der Prager Spaziergänger“ verfaßte. In ihm finden sich Sätze, die Bernigs Flaneur perfekt charakterisieren: „Kommen denn nicht täglich, so unauffällig das auch geschieht, hungrige Seelen aus allen Winkeln unserer Länder nach Prag, um die Prager Geheimnisse anzurufen und mit ihrer stillen Sehnsucht immer wieder zu neuem Leben zu erwecken?“ Die „unaussprechliche Magie der Stadt“ ergebe sich aus der „Verschmelzung äußerst archaischer Reize mit dem modernen Geist“. Das Bewußtsein ihrer Gefährdung löst bei Nezval ein „neues Gefühl“ für die Stadt aus, eine „Rührung ohne Sentimentalität“.

Die Sätze entsprechen dem Geist und der Poetik von Bernigs Novelle. Sie legt archaische Zeitschichten frei und setzt sie mit der Gegenwart in Beziehung: Es fällt der Name Karl IV., König von Böhmen und römisch-deutscher Kaiser, der 1356 die Goldene Bulle verabschiedete, den Bau des Veitsdoms und der Karlsbrücke veranlaßte und Prag zur faktischen Hauptstadt des Reiches machte. Erinnert wird an den Aufstand des böhmischen Adels gegen die Habsburger, der 1621 mit der Hinrichtung von 27 Rebellen vor dem Altstädter Rathaus endete, was im kollektiven Gedächtnis der Tschechen als nationale Katastrophe nachhallte. Der anschließenden habsburgischen Bodenreform folgte 1945 eine weitere, die sich mit dem Namen Beneš verbindet. Bernigs Spaziergänger betrachtet Alfons Muchas „Slawisches Epos“, eine anachronistische Apotheose des bekannten Jugendstilmalers, die dem tschechoslowakischen Staat eine mythische Legitimation verleihen sollte.

Weiter sinnt er nach, woher die Pretiosen in den Schaufenstern der Antiquitätenläden wohl stammen.Von den deportierten Juden? Den vertriebenen Deutschen? Als 1968 russische Truppen einrückten, um den „Prager Frühling“ zu beenden, montierten die Bewohner die Straßenschilder ab, um die Soldaten zu verwirren, doch gegen die aktuelle „Soldateska“ des Massentourismus ist Widerstand aussichtslos. So fügen die heutigen Bewohner Prags sich vorauseilend in eine „diensteifrige Kollaboration“. 

So viel verwirrende Vergangenheit und Gegenwart, die sich über den Schriftsteller im Krisenmodus wälzt! So wie die Zeitebenen changieren und sich vermischen, so fließen das Stadterlebnis, die schriftstellerische Arbeit und das Lebensschicksal ineinander: „Und im Traum sah er manchmal auch das Wehr unter den Fenstern, sah er den Wehrläufer, der bisweilen etwas aus dem Fluß zog und der anderes, Verfangenes, mit seinem Bootshaken löste und dann der Strömung überließ.“ Was eine klare Aufforderung ist, sein Leben zu ändern. Die Hauptfigur des vollendeten Romans, ein Maler, kehrt seinem geldwerten Ruhm den Rücken. Ihrem Erfinder wird durch ein schockartiges Erlebnis auf einer Eisenbahnbrücke über der Moldau klar, was sich traumatisch in ihm verfangen hat und wie er sich davon freimachen kann. 

Wie alles mit allem zusammenhängt, ist nachzulesen in diesem filigranen, feinsinnigen Buch, erschienen in der Edition des Buchhauses Loschwitz, das ab jetzt dem Prosawerk des Radebeuler Autors Jörg Bernig eine neue Verlagsheimat gibt.

Jörg Bernig: Der Wehrläufer. Eine Geschichte aus Prag. Novelle. Edition Buchhaus Loschwitz,  Dresden 2021, gebunden, 190 Seiten, 24 Euro 

 www.kulturhaus-loschwitz.de