© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Dichtung und Wahrheit liegen im Auge des Betrachters, nicht nur bei den kostbaren Kabinettstücken aus der Bibliothek meines Onkels mit Erstausgaben des Geheimraths, wo der heimeligste Platz immer der Diwan war. Fern des west-östlichen Divans, im „Café des Westsektors“, wird mir erklärt, der neue Mitarbeiter sei gerade vor einem halben Jahr aus Syrien gekommen. Darauf meine Frage: „Erst jetzt?“ Antwort: „Na, der ist wahrscheinlich Wirtschaftsflüchtling.“ Ich denke: In der „Wirtschaft“ ist er ja genau richtig. Irritierend dagegen tags zuvor die Frau mit dem Staffordshire Bullterrier, der einen Maulkorb (und offenbar auch eine verrutschte Maske) trägt – angesichts der Menschen, die seit Monaten lammfromm ihre Maske tragen, folgsamer als jeder Vierbeiner, ein verstörendes Bild. Die mir entgegenkommende Hundehalterin, da sie meinen Blick bemerkt hat, dreht sich auf gleicher Höhe zu mir um und erklärt frohen Gemüts: „Das ist wegen der Rasse.“ Doch mit der Rassenkunde von Hunden ist es bei mir nicht weit her. Entscheidender ist die Dressur. Tage zuvor ermahnt ein Mann an der roten Ampel seinen Vierbeiner und übersieht, daß genau dort für die Lösung seines Problems geworben wird: An dem Pfahl klebt ein Handzettel für „Zen-Hunde“ und wirbt für „Erziehung, Training und Ausführservice“. 


Am Samstag-abend, da alle Tische vor den Gastwirtschaften restlos besetzt sind, komme ich mit einem Paar ins Gespräch, das ich flüchtig kenne und das ebenfalls aus der „Zone“ stammt, wenngleich es den Begriff ablehnt. Beide aber haben wir das gleiche Gefühl bei Marco Wanderwitz, Ost-Beauftragter der Bundesregierung, der mit Blick auf die AfD erklärt, daß viele ehemalige DDR-Bürger noch nicht in der Demokratie angekommen seien und das Problem erst gelöst werde, wenn diese ausgestorben sind. Wir stellen fest, daß wir wieder in der Spätphase der DDR sind, wo es üblich war, sich mit dem Nächsten über die politischen Verhältnisse auszutauschen – also über ein System im Endstadium. Dialektisch geschult, wie wir sind, wissen wir zugleich: Wir schaffen das!


Unverdrossen auch wenige Minuten vorher ein Mädel zu ihrem Freund: „Ich muß immer noch mal gucken, ob Ersatzverkehr ist – wenn Ersatzverkehr ist, nehm ich das Auto.“ Währenddessen fahren durch Berlins Mitte Öko-Extremisten der Aktion „Volksentscheid Berlin autofrei“.