© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Symbole einer blutigen Opfertradition
Von Briten aus Leichengruben geborgen: Deutsche und europäische Museen verhandeln über eine Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria
Paul Leonhard

Der Freistaat Sachsen wird sich wohl bald von den in seinem Besitz befindlichen Bronzereliefs aus dem ehemaligen Königreich Benin trennen und diese an Nigeria übergeben. Damit verliert das Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig seine kostbarste Sammlung – dank des Engagements seiner Direktorin, der Niederländerin Léontine Meijer-van Mensch. Ob die Leipziger die Kunstschätze aus Afrika vermissen werden? Abschied können sie ohnehin nicht nehmen. Die Bronzen sind aktuell nicht ausgestellt.

Dabei hatte der Freistaat Sachsen erst 2002 für rund zwölf Millionen Euro – aus Steuer- und Sponsorengeldern – etwa 50 Objekte aus der Benin-Sammlung des Leipzigers Hans Meyer (Meyers Lexikon) erworben, die bis dahin als Dauerleihgabe in den Ethnographischen Sammlungen zu sehen waren. Daß es sich dabei um Kulturgüter handelt, von denen sich die einstigen Besitzer nicht freiwillig getrennt hatten, mußte sowohl den Politikern als auch den Museumsmitarbeitern klar gewesen sein, denn bereits die DDR hatte mit Nigeria, auf dessen Staatsgebiet das einst mächtige Benin liegt, über eine Rückgabe verhandelt, die dann allerdings durch den Untergang des Arbeiter- und Bauernstaates verhindert wurde.

Vergeltung für ein Massaker 

Neuen Schwung in die Verhandlungen brachte erst Léontine Meijer-van Mensch, als sie Anfang 2019 ihr Amt als Direktorin der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen, immerhin der zweitgrößten ethnologischen Kollektion Deutschlands, antrat und die Rückgabedebatte so energisch befeuerte wie keine Museumschefin vor ihr – und doch von afrikanischer Seite harsche Kritik einstecken mußte.

Denn Meijer-van Mensch wollte zwar die Eigentumsfrage zugunsten Nigerias geklärt wissen, aber gleichzeitig die Schätze oder zumindest einen Teil davon als Leihgaben weiter ausstellen dürfen. Es wäre doch „schade, wenn alle Benin-Bronzen nach Nigeria zurückgehen“. Genau dieser Zungenschlag war es, der in afrikanischen Ohren schon wieder nach einem neuen Kolonialismus klang.

In dem im Bau befindlichen Edo Museum of West African Art in Benin will man künftig nach Möglichkeit alle Bronzen ausstellen, die derzeit weltweit in den bedeutendsten Museen zu sehen sind, die meisten davon im Britischen Museum in London mit 700 und im Ethnologischen Museum Berlin mit 560 Stücken. Weitere Exponate beherbergen unter anderem das Weltmuseum Wien (200), das Museum für Ethnologie Hamburg (196), das Ethnologische Museum Dresden (182) und das Metropolitan Museum of Art in New York (163). Die angegebenen Stückzahlen sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten, weil offenbar längst nicht alle Gegenstände, die aus Benin stammen, katalogisiert sind.

Daß das 1960 in die staatliche Unabhängigkeit entlassene Nigeria überhaupt einige Stücke zurückerwerben konnte, verdankt es einer Laune von Hermann Braunholtz, Kurator des Britischen Museums. Er gelangte 1950 zu der Auffassung, daß 30 der 203 von seinem Haus 1898 erworbenen Stücke Duplikate seien und damit verkauft werden könnten. So kamen bis 1972 mehr als 30 der Bronzen nach Benin. Im Grunde genommen handelte Braunholtz also vorausschauend, wenn auch aus einer falschen Erkenntnis heraus. Ansonsten trennte sich wohl kein Museum der Welt von diesen als äußerst wertvoll eingeschätzten Objekten, abgesehen von der Universität im schottischen Aberdeen, die unlängst einen erst 1957 ersteigerten Bronzekopf eines Königs an Nigeria übergab.

Aber wer hat eigentlich Anspruch auf die Bronzen und die anderen von den Briten mitgenommenen Gegenstände? Der 1897 noch gar nicht existierende Staat Nigeria oder doch eher die Nachfahren des Königs und der Adelskaste von Benin, die die Rückgabe erstmals 1914 forderten? Handelt es sich um einst staatliches oder privates Eigentum? Der MDR berichtete, daß der heutige König von Benin gar nicht mehr alle Objekte zurückhaben möchte. Und handelt es sich überhaupt um Raubgut? Im Vielvölkerstaat Nigeria könnte überdies die Frage gestellt werden, auf wessen Kosten der einstige äußerst aggressive Kriegerstaat der Edo mit seiner Hauptstadt Benin diese Kunstgegenstände schaffen konnte und wer die besiegten Rivalen waren, die als Trophäenköpfe dargestellt wurden.

„Diese Kunstwerke verkörpern das, was wir sind: unser Volk, unsere Kultur, unsere Religion, auch einen Teil unserer politischen Struktur; sie sind Symbole unserer Identität“, erinnerte vor drei Jahren Nigerias Ministerpräsident Godwin Nogheghase Obaseki: „Was 1897 passierte, hat unser ganzes Volk traumatisiert. Es war ein Schock. Vergessen Sie nicht, daß Benin einst eine Weltmacht war.“ Benin, eine Weltmacht? Geht man dieser Spur nach, taucht man in die Geschichte eines jahrhundertealten Kriegerreiches ein, das bereits im 15. Jahrhundert mit den Portugiesen prächtige Geschäfte betrieb, die Nachbarländer tyrannisierte und deren Einwohner als Sklaven verkaufte oder den Göttern opferte.

Es waren 80 abgeschlagene Köpfe und 130 Gefangene, die als Menschenopfer endeten, die am 4. Januar 1897 das Faß zum Überlaufen brachten: Einige aufmüpfige Kriegerhäuptlinge der Edo hatten, entgegen der Weisung ihres Königs, eine unbewaffnete diplomatische Delegation der Briten, bestehend aus zehn Europäern und 200 afrikanischen Gefolgsleuten, kurzerhand massakriert. Das britische Imperium schlug in aller Deutlichkeit zurück: Die Stadt Benin wurde zerstört, der König abgesetzt und ins Exil verbannt. Was die Briten aber zutiefst erschütterte, waren jene Altäre mit den heute berühmten Bronzen, die noch Spuren der Menschenopfer aufwiesen.

Um diesem Kult Einheit zu gebieten, habe der britische Befehlshaber sämtliche Gegenstände konfisziert, erinnert die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die bis 2016 als Professorin an der Universität Göttingen lehrte, an die in der aktuellen Diskussion gern verschwiegenen Hintergründe. Nach damaligen Normen sei dies keine Plünderung gewesen. Hauser-Schäublin stellt in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung geradezu ketzerische Fragen: Was wohl mit den vielen Bronzen und Elfenbeinstoßzähnen, den Symbolen göttlich legitimierter Herrschaft und Gewalt, nach der Absetzung des Königs und seiner Verbannung ins Exil geschehen wäre, wenn die Briten sie vor Ort gelassen hätten? Wären sie von vordringenden islamisierenden Gruppen zerstört worden?

Innerafrikanische Konflikte wurden nie aufgearbeitet

Die sakralen Gegenstände, nach heutigen Schätzungen rund 3.500 bis 4.000 meist aus Gelbguß bestehende Bronzen sowie  Terrakotta, Elfenbein- und Holzschnitzereien, wurden allein aus politischem Kalkül nach Großbritannien abtransportiert. Es sollte ein Schlußstrich unter die aus europäischer Sicht nicht länger hinnehmbare blutige Opfertradition des selbstbewußten Königreichs gezogen werden. Den Briten war aber gewiß klar, daß – die Edo nutzten keine Schriftsprache, sondern die Bronzen, um alle wichtigen Ereignisse und Rituale festzuhalten – dem Kriegervolk damit quasi Nationalarchiv und Reliquien genommen wurden, also das kollektive Gedächtnis eines ganzen Volkes.

Die europäischen und amerikanischen Ethnologen erkannten sehr schnell den hohen künstlerischen Wert dieser Bronzearbeiten, die den besten europäischen zumindest ebenbürtig waren und den gesamten afrikanischen Kontinent plötzlich in einem völlig neuen Licht erscheinen ließen, nämlich als eines „geschichts- und kulturträchtigen Kontinents“, so Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Vertreter des Britischen Museums und des Völkerkundemuseums Berlin kauften jedenfalls die schönsten Stücke, als diese von einem Auktionshaus in London angeboten wurden.

Fortan sorgsam gehütet, wurden die Objekte in den vergangenen mehr als 120 Jahren zu „internationalen Botschaftern einer technisch-künstlerisch hoch entwickelten afrikanischen Kultur“, so Hauser-Schäublin: „Würde nicht ‘Raub’ als Ausgangspunkt der Provenienzforschung genommen, wäre es aufgrund dieser komplexen Verflechtungen auch von gewalttätigen Handlungen kaum möglich, eindeutige ‘Täter’ und ‘Opfer’ zu identifizieren.“

Die Schweizer Ethnologin spinnt den Faden weiter: Wer heute so tue, als wären die Kunstgegenstände „Repräsentanten eines früher demokratisch regierten, friedfertigen Volkes, eines Volkes, das nun endlich seine Seele – die Benin-Bronzen – zurückhaben möchte“, warum frage der nicht auch nach den „Stimmen aller der anderen, der einfachen Leute der Edo, der Nachkommen der in Benin als Sklaven gehaltenen Menschen oder jener afrikanischen Soldaten, welche nur knapp das Massaker überlebt hatten, weil sie von den Briten halb tot aus den Leichengruben geborgen worden waren? Wer leiht sein Ohr den Nachbargruppen, die Opfer der Benin-Aggressionen waren?“

Ist es diese Komplexheit und Widersprüchlichkeit afrikanischer Geschichte, daß es europäischen Kunsthistorikern plötzlich gar nicht schnell genug gehen kann, diese kontaminierten Gegenstände, deren Blutspur auf nie aufgearbeitete innerafrikanische Konflikte verweist, zurückzugeben, damit ja nichts an den eigenen Häusern haften bleibt.

„Restitution ist das Recht auf die eigene Geschichte“, sagt die Niederländerin Nanette Snoep, die sich als Leiterin des Rautenstrauch-Joest Museums in Köln für eine schnelle Rückgabe stark macht, aber auch wie ihre Landsfrau in Leipzig hofft, daß einige Exponate in deutschen Museen bleiben können: „Doch welche und wie sie dort präsentiert würden, darüber werde allein die nigerianische Seite entscheiden.“

Verhandelt wird zwischen Vertretern Nigerias und Deutschlands in der „Benin Dialogue Group“ bereits seit 2008, und schon 2016 wurde beschlossen, einige Kunstgegenstände als Leihgaben für das in Benin geplante Museum zur Verfügung zu stellen. Ein Umdenken in Richtung dauerhafter Rückgabe setzte sich in Deutschland erst politisch durch, als der französische Präsident Emmanuel Macron 2017 die Rückgabe aller in französischen Museen befindlichen Objekte aus Benin ankündigte. Allerdings meinte Macron die 1892 von französischen Truppen aus den Königspalästen von Abomey, der Hauptstadt des damaligen Reichs Dahomey, gestohlenen 26 Artefakte.

Zeitplan für Rückgabe soll im Sommer vorliegen

Ende April 2021 erklärte sich auch Berlin offiziell zur Rückgabe bereit. So das Ergebnis eines Spitzengesprächs zwischen Bund, Ländern und deutschen Museumsdirektoren unter Leitung von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), die diese Entscheidung mit der „historischen und moralischen Verantwortung“ und dem „Respekt vor anderen Kulturen im Sinne der Verständigung und Versöhnung“ begründete. Bis zum Sommer soll ein konkreter Zeitplan vorliegen. Allerdings gilt als Voraussetzung dafür, daß Nigeria genau mitteilt, auf welche Gegenstände es Anspruch erhebt. Und damit das afrikanische Land dies tun kann, werden derzeit alle in deutschen Sammlungen befindlichen Benin-Bronzen in einer Datenbank der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden digital erfaßt und virtuell wieder als „Projekt Benin“ zusammengeführt.

Derzeit sieht es so aus, als würde Sachsen erste Gegenstände im kommenden Jahr zurückgeben. Allerdings muß dem noch der Landtag zustimmen, denn die Benin-Bronzen in Dresden und Leipzig sind Eigentum des Freistaates. Und zumindest die Opposition dürfte bei der Gelegenheit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) peinliche Fragen stellen, beispielsweise was er bisher unternommen hat, damit sich noch immer in den Nachbarländern sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion befindliches Raubgut aus sächsischen Museen, Bibliotheken und Privatsammlungen zurückgegeben wird. Vielleicht klärt sich bei der Gelegenheit auch der Verbleib von 413 Objekten aus Benin, die einst Felix von Luschan für das Völkerkundemuseum Berlin erwarb und die im Zweiten Weltkrieges nach Schlesien ausgelagert wurden und seit dem als vermißt gelten.