© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Das Opernland unter dem Operettenstaat
Zensur und Selbstzensur: Der Musik- und Theaterwissenschaftler Eckart Kröplin schaut auf das Operntheater in der DDR zurück
Jens Knorr

Wenn die Nachwelt schon dem Mimen keine Kränze flicht, muß der Dramaturg, will er zu dem seinen kommen, den Kranz sich selber flechten. Eckart Kröplin, 1943 in Güstrow geboren, Musik- und Theaterwissenschaftler, Hochschuldozent, Kritiker, Dramaturg und Buchautor, war zur Spätzeit der DDR als Professor für Theorie und Geschichte des Musiktheaters an der Leipziger Theaterhochschule und ab 1984 als Chefdramaturg an der neueröffneten Dresdner Semperoper tätig.

In seiner im Henschel-Verlag erschienenen Rückschau auf das „Operntheater in der DDR. Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen“  will er diese „unikale“ Erscheinung als spezifischen Teil der Kulturgeschichte Deutschlands, letztlich als Beitrag zu einer deutschen Nationalkultur, vor dem Vergessen bewahren – und selbstverständlich auch den Beitrag dessen, der „vieles … gesehen und erlebt, so manches mitgestaltet und mitverantwortet“ hat, und das in durchaus herausgehobener Position im Hochschul- und Opernbetrieb des kleindeutschen Teilstaats. Kröplins Darstellung ist von Selbststilisierung nicht frei, Aufklärung und Verklärung gehen ineinander über und „vieles“ und „so manches“ verliert sich im Nebel.

Das Operntheater der DDR erzählt Kröplin in vier „Entwicklungsabschnitten“ zu je einem Dezennium, die er politischen und kulturpolitischen Daten zu- und unterordnet: die 1950er Jahre von der Gründung der DDR bis zum Mauerbau, die Sechziger bis zum Sturz Walter Ulbrichts durch Erich Honecker und dem VIII. Parteitag der SED, während derer sich die DDR scheinbar konsolidierte, sich aber auch von der Idee eines einheitlichen Nationalstaats verabschiedete; die Siebziger als die Jahre der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, schließlich die Achtziger als die „bleierne Zeit“, während derer die DDR erodierte, um folgerichtig 1989 zu implodieren.

Gnädige Seitenblicke auf die Provinz

In dieses Gerüst nun hängt Kröplin alle möglichen kulturpolitischen, institutionellen, personellen Entwicklungen ein: die politische Affirmation der Institution und des Genres Oper, das Ringen um die Chimäre einer DDR-Nationaloper, die Formalismus-Diskussionen um Orffs „Antigonae“, Brecht/Dessaus „Lukullus“ und Eislers gescheitertes „Johann Faustus“-Projekt, die Durchsetzung des „realistischen Musiktheaters“ Walter Felsensteins an der Komischen Oper Berlin und des „epischen Musiktheaters“ im Anschluß an Brecht als Gegenposition durch die Regisseurin und Choreographin Ruth Berghaus an der Staatsoper. Zudem thematisiert Kröplin personelle Aderlässe vor und nach dem Mauerbau, vermeintliche Liberalisierungen und reale kulturpolitische Kahlschläge, internationale Öffnung und nationale Abschottung, künstlerische Aufbrüche und Abbrüche, Verfall und Agonie auf allen Ebenen und in allen Schichten.

Es finden sich Exkurse zu der Opern-arbeit an den großen Opernhäusern Berlins, Dresdens, Leipzigs, Weimars, wichtiger Regisseure, der „berühmten Fünf“ Felsenstein, Herz, Friedrich, Kupfer, Berghaus, zur widersprüchlichen Mozart- und Wagner-Rezeption, zu wichtigen Komponisten und ihren in der DDR komponierten Partituren, zu den diametralen Ästhetiken von Heiner Müller und Peter Hacks, negativer Dialektiker der eine, sozialistischer Klassizist der andere.

Ja, das alles und noch mehr findet sich in Kröplins zweckmäßig gegliederter, zuverlässig recherchierter und bibliographisch aufbereiteter Überblicksdarstellung – für den auf der jeweils anderen Seite der Mauer sozialisierten Leser mit Wiedererkennungs- beziehungsweise Neuigkeitswert, für den operngeschichtlich interessierten auch der Abbildungen, Inszenierungs- und Literaturverzeichnisse wegen ein Muß.

Kröplin beleuchtet vieles, aber leuchtet er es auch aus? Ganz im Gegensatz zu der Leipziger Schule, die sich mit dem Wirken des Theaterwissenschaftlers Rudolf Münz (1931–2008) verbindet, liest Kröplin Operntheater-Geschichte als „positivistische, chronologisch-lineare, beschreibende Darstellung im Sinne einer ‚Leistungsgeschichte auf Werkbasis‘“, so Münz’ Kritik.

Kröplin beschränkt seine Darstellung auf die Institution Operntheater und hier auf die „führenden“ Opernhäuser, Dirigenten, Komponisten und Regisseure, in einem: auf die Hochkultur der Hochkultur, was gnädige Seitenblicke auf die Provinz nicht ausschließt. Nicht in jedem Fall erscheinen Operntheater als Kunstausübung und als Institution voneinander geschieden und dialektisch miteinander vermittelt. Wäre die „politische Reibungsfläche“ von „produktiv-provokanter Opernkunst und innovativer Theaterästhetik“ nicht vielmehr noch als in den verordneten politischen Dogmen in dem Theatersystem der Opernhäuser, Landesbühnen, Stadttheater aufzusuchen gewesen, welches das Operntheater in der DDR mit seinem „ganz eigenen Avantgardismus“ eigentlich prägte?

Künstlerische Freiheiten mußten erkämpft werden

Als Mitarbeiter und Apologet der Ästhetik des Opernregisseurs Joachim Herz (1924–2010) stellt Kröplin Eigengesetzlichkeiten des Theaters hintan, wertet Inszenierung als Realisierung des Werkes, nicht als das Werk selbst, Praxis der Opernregie als „Stil“, nicht als Methode, konkurrierende Formen des Musiktheaters außerhalb, aber auch innerhalb der fensterlosen Häuser nicht als konkurrierende Gesellschaftskonzepte. Er streift das Phantom „Arbeiteroper“, die „Funk- und Fernsehoper“ und das „heitere Musiktheater“ des Regisseurs Horst Bonnet, entwickelt nach dem niederkartätschten Prager Frühling mit durchaus resignativen Zügen. Die letztlich verworfenen Pläne im Kultur- oder Volksbildungsministerium, eine „Kinderoper“ nach dem Vorbild des Moskauer Musiktheaters für Kinder der Natalja Saz zu etablieren, scheint Kröplin nicht zu kennen.

Daß die Darstellung des Autors sich oftmals in Affirmationsschleifen verfängt, wird der Leser einzuordnen wissen. Entgegen dem Untertitel des Buches verliefen, wie in der DDR überhaupt, so auch in ihrem Operntheater die Frontlinien keineswegs „zwischen Intellektuellen und Künstlern auf der einen Seite und der Partei- und Staatsführung auf der anderen Seite“, zwischen wackeren Opernschaffenden und einer hoch-, spät-, und poststalinistischen Parteibürokratie, die bei Kröplin als „Machthaber“, „staatliche Organe“, „Parteiobere“, „Ideologen“ vorkommt. Die Frontlinien verliefen vielmehr durch Leitungsebenen, Sparten und Gewerke der Opernhäuser, ja durch jeden einzelnen der dort Tätigen hindurch.

Man mußte dem Alltag des DDR-Operntheaters schon einigermaßen enthoben gewesen oder der Gnade des Vergessens teilhaftig geworden sein, um ihn heuer verklären zu können. Künstlerische Freiheit und Innovation mußten zuallererst gegen das Personal an großen wie kleinen Häusern durchgekämpft werden. Der Zensur ging Selbstzensur voraus. Viele der Stars des Musiklebens der DDR, Dirigenten, Regisseure, Bühnenbildner, Sänger, von Kröplin zu Recht als von der DDR hervorgebracht und benutzt zugleich apostrophiert, die „in aller geistigen Freiheit den unbestrittenen Reichtum des DDR-Musiktheaters in die Welt“ exportierten, taten das nicht aus freien Stücken. Sie waren nicht erst an den „Parteioberen“ der SED oder den „schwarzen SED-lern“ von der CDU gescheitert, sondern zuvörderst an den unkündbaren Angestellten der „sozialistischen Theaterkollektive“ ihrer Heimatbühnen. Die hielten der Gesellschaft keinen Spiegel vor – sie waren ein Spiegel der Gesellschaft. 

Seine Erzählung von Aufstieg, Blüte und Verfall der DDR im Spiegel ihres Operntheaters läßt Kröplin in der legendenüberwucherten „Fidelio“-Inszenierung von Christine Mielitz an der Semperoper kulminieren, die am 7. Oktober 1989, dem „Tag der Republik“, Premiere hatte. Er war stückführender Dramaturg gewesen.

Zweifellos kam die Aufführung zu rechter Zeit an rechtem Ort. Doch schossen in der flach journalistischen Inszenierung noch einmal alle Widersprüchlichkeiten von Kunst und Künstlertum in der DDR zusammen, vorausschauender Opportunismus als Protestpose, Illusionismus als Utopie, der Deus ex machina, der zwielichtige Minister Don Fernando, in der Maske des Ersten Sekretärs der Bezirksleitung der SED, Hans Modrow. Und ein Premierenpublikum, das sich vor allem selbst beklatschte, unter diesem in der zweiten Vorstellung auch der Rezensent. Da war dem Staat in der letzten Oper Paul Dessaus, „Leonce und Lena“ (1979), und den Opern seiner Schüler ihr Requiem lange schon gesungen worden, unerhört.

Eckart Kröplin: Operntheater in der DDR. Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen. Henschel Verlag, Leipzig 2020, gebunden, 358 Seiten, Abbildungen, 28 Euro

Foto: Ludwig van Beethovens „Fidelio“ an der Semperoper Dresden (Premiere am 7. Oktober 1989): Die Inszenierung von Christine Mielitz spielt in einem Gefängnishof hinter Stacheldraht